Sachbuch

Queer und (Anti-)Kapitalismus

Aushalten oder System stürzen?

Ein beliebtes Diskussionsthema zwischen Freund*innen und mir ist die Frage, welches unterdrückende System wohl länger überleben wird, das Patriarchat oder der Kapitalismus? Klingt links und nerdig? Wenn du priviligiert, also weiß, cis, hetero und mindestens Mittelschicht, bist, dann vielleicht schon. Für alle anderen nicht. Denn Aktivismus gegen ausbeutende und diskriminierende Systeme ist eine Notwendigkeit für alle, die davon betroffen sind. Und wie antikapitalistisch queerer Aktivismus war, ist oder sein muss, darauf versucht das Buch »Queer und (Anti-)Kapitalismus« von Heinz-Jürgen Voß und Salih Alexander Wolter Antworten zu geben.

Heinz-Jürgen Voß und Salih Alexander Wolter zeigen, dass Kapitalismus mehr ist, als nur eine Wirtschaftsform. Vielmehr haben wir es mit einem historisch gewachsenen, globalen Herrschafts- und Unterdrückungssystem zu tun, das alle Bereiche des Lebens weltweit durch dringt. Beide zeichnen nach, wie der Kapitalismus zum einen Motor als auch Grundlage für Rassismus, Zweigeschlechtlichkeit und Heterosexismus wie wir sie heute kennen, war und ist.

Buch und Zitat Blick ins Buch »Queer und (Anti-)Kapitalismus«

Die verschiedenen Formen der Ausbeutung

Denn ein System, das auf Ausbeutung beruht, braucht Menschen, die ausgebeutet werden. Und das sind bis heute Frauen (unbezahlte Reproduktions- bzw. care Arbeit, gender pay gab) und Schwarze Menschen bzw. People of Color (Kolonialismus, Ausbeutung des globalen Südens). Die Verschränkung von sex, race und class ist heute offensichtlicher denn je. Stichwort Intersektionalität. Denn kurz gesagt, mehrfachdiskriminierte Menschen werden noch stärker vom System ausgebeutet. Um so wichtiger sind ihre Perspektiven und ihr Aktivismus.

»Bewusstes wahrnehmen und verlernen der eigenen privilegierten Position ist Grundbedingung, damit Sprechen aus unterdrückten Positionen überhaupt erst möglich werden kann […] Und das selber-Sprechen-können aus unterdrückten Positionen ist die Grundbedingung für emanzipatorische Veränderungen.«

Spivak nach Heinz-Jürgen Voß, S. 70.

Und dass schafft das Buch ganz hervorragend: Schwarze Perspektiven und PoC-Perspektiven, vor allem von Frauen, in den Mittelpunkt zustellen. Doch nicht nur das. Es geht auch darum, im historischen Kontext die Rolle von Schwarzen Feminist*innen, queeren PoC, trans* und inter* Aktivist*innen für Arbeiter*innenbewegungen und schwul-lesbische Kämpfe sichtbar zu machen. Denn was dadurch deutlich wird, ist, dass queer, um herrschaftskritisch zu sein, notwendiger Weise auch anti-kapitalistisch, also intersektional, sein muss.

Whitewashing trifft Queerness

Doch wer ist aktuell der große Gewinner von queeren Kämpfen? Der weiße, cis-schwule Mann der Mittelschicht, der es geschafft hat, fester Bestandteil der Dominanzgesellschaft zu werden. Und das auf Kosten von jahrelangen Kämpfen von vor allem Schwarzen und PoC trans* Anktivist*innen. Bestes Beispiel dafür ist der Gründungsmythos des queeren Aktivismus, die Stonewall Riots. Erst in den letzten Jahren ändert sich das Narrativ von den weißen Schwulen hin zu dem, was wirklich passiert ist: Dass vor allem queere obdachlose Jugendliche, Sexarbeiter*innen und Schwarze trans* Frauen die Vorreiter*innen der Bewegung waren.

»Tragisch« ist deshalb eher, dass sich viele von »uns« nach dem Aufbruch, der druch die Ereignisse in der Christopher Street eingeläutet schien, schnell wieder in der Bürgerlichkeit der eigenen Herkunft eingerichtet haben – Schwul-, Lesbisch-, und irgendwann später vielleicht sogar Trans*-Sein sollten auch »dazugehören«, und das war’s dann eben. Womöglich noch tragischer ist es jedoch, sich die Anpassung an die eigene priviligierte Position als »subversive Praxis« schönzureden.

Salih Alexander Wolter, S. 33.

Gerade an Sylvia Rivera und Marsha P. Johnson ist zu sehen, wie ihr Aktivismus von weißen cis-Homostrukturen ausgenutzt wurde, bevor sie selber aus rassistischen, klassistischen und cis-dominanten Gründen aus der Community und der Geschichte verdrängt wurden. »Gay« wird zu einer pink economy mit dem Ziel der Anpassung an die Mehrheitsgesellschaft. Das System wird nicht zu Gunsten der Menschen, die am meisten benachteiligt werden, geändert. Sondern es erhält sich selbst, wenn bereits Privilegierten noch mehr Rechte innerhalb der Ordnung zugestanden werden.

Heinz-Jürgen Voß und Salih Alexander Wolter zeichnen nach, wie stark rassistische Motive und Erzählungen auch heute noch queere Bewegungen in Deutschland durchziehen. Und wie sehr das durch eine Verstaatlichung und Fördergeldstruktur von aktivistischen Netzwerken auch reguliert wird. So entstehen systemkonforme Organisationen mit internalisierten rassistischen Strukturen, während selbstorganisierte queere Schwarze und PoC Bewegungen, als die eigentlichen revolutionären Zellen bewusst kleingehalten werden.

Die intersektionale Revolution muss kommen

»Queer und (Anti-)Kapitalismus« führt Schwarze und feministische Analysen von Marx zusammen und betrachtet, wie Heterosexismus und Rassismus eine wichtige Grundlage für kapitalistische Ausbeutung bilden. Dabei geht es sowohl um ursprüngliche Akkumulation, als auch um die Konstruktion des Homosexuellen in Tradition Foucaults. Ein wichtiger Fokus wird auf die deutsch-deutsche Arbeiter*innen- und Homosexuellen-Bewegung gelegt, weil gerade im allgemeinen Narrativ DDR-Verhältnisse immer zu kurz kommen.

Und weiße linke Streitende sollten sich bewusst sein, dass sie an vielen Stellen gerade in ihren als selbstverständlich betrachteten Auffassungen kolonialistische, rassistische, antisemitische aber auch zweigeschlechtlich-sexistische Positionen verinnerlicht haben.

Heinz-Jürgen Voß, S. 141.

Was leider fehlt, ist die aktuelle Kommerzialisierung der queeren Szene und von Schwarzen Körpern. Denn eins hat Kapitalismus schon immer geschafft – kritische Positionen für sich einzunehmen und Gewinn daraus zu akkumilieren. Außerdem ist die Analyse davon, wie Zweigeschlechtlichkeit und cis-Sexismus sich im Verhältnis zum Kapitalismus entwickeln, etwas zu kurz gekommen. Denn was sich langsam abzeichnet – das Patriarchat ist zu knacken! Doch um Rassismus und Kapitalismus zu überwinden, brauchen wir mehr intersektionale Perspektiven für die kommende Revolution. Und das wird auch verstärkt Thema in den kommenden Diskussionen mit Freund*innen sein.

Fazit

Dieses Sachbuch hat Highlights für alle Leser*innen – von klassischen Marxist*innen über intersektionale Feminist*innen von heute bis hin zu weißen queers, die sich endlich mal kritisch mit der eigenen Community auseinandersetzten wollen. Ja, die Sprache ist vorrausetzungsvoll und akademisch, doch viele Begriffe, gerade auch Selbstbezeichnungen, werden erklärt. Ein Grundverständnis von linker Theorie kann helfen, doch vor allem macht »Queer und (Anti-)Kapitalismus« Lust auf mehr kritische, Schwarze, queere Kritik!

Vor der Lektüre

»Queer und (Anti-)Kapitalismus« (2013) ist im zauberhaften Schmetterlings-Verlag
bereits in der 3. durchgesehenen Auflage erschienen.

*** Unbezahlte Rezension für Rezensionsexemplar. ***

Eine Hand hält das Buch »Geschlecht. Wider die Natürlichkeit« von Heinz-Jürgen Voß vor einer Steinwand. Davor steht die Überschrift: Der Mensch legt das Geschlecht fest. Heinz-Jürgen Voß gegen die Natürlichkeit

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