Eine Hand hält das Buchcover von Douglas Stuart »Young Mungo« vor einer Steinwand. Davor steht die Überschrift: Wenn sich Männlichkeit, Queerfeindlichkeit und sexualisierte Gewalt zum toxischen Cocktail mischen. Oder warum »Young Mungo« von Douglas Stuart den Hype nicht wert ist.
Roman

Wie »Young Mungo« Männlichkeit, Queerfeindlichkeit und sexualisierte Gewalt zum toxischen Cocktail mischt

Oder warum Douglas Stuarts neuer Roman den Hype nicht wert ist

CN: Vergewaltigung, sexualisierte Gewalt, Pädophilie, Alkoholkonsum/Sucht, Queerfeindlichkeit, häusliche Gewalt, Mord

Douglas Stuart hat es wieder geschafft – er hat mit »Young Mungo« eines der Hype-Bücher der aktuellen Saison vorgelegt. Der zweite Roman von Stuart ist bereits 2022 im englischen Original und jetzt dank der erneut wunderbaren Übersetzung von Sophie Zeitz auch auf Deutsch erschienen. Wir befinden uns wieder im Arbeiter*innenkontext des Schottlands der 1990er Jahre. Wieder kreist die Erzählung um den jüngsten Sohn einer alleinerziehenden Mutter, die ihre eigene Frustration mit Alkohol zu bekämpfen versucht. Wieder gibt es zwei ältere Geschwister, und einen coming-off-age Roman, der die harte Realität von (queerfeindlicher) Gewalt eindrücklich auserzählt.

Auch wenn es offensichtliche Parallelen zu Douglas Stuarts Debütroman »Shuggie Bain« gibt, schlägt »Young Mungo« einen doch ganz anderen Ton an. Hier steht nicht eine einfühlsame Mutter-Sohn-Geschichte im Mittelpunkt, sondern die Härte und Gewalt von Männlichkeitsanforderungen und wie sie Menschenleben zerstören – im gewaltvollsten Sinne des Wortes.

Eine Hand hält das Buchcover von Douglas Stuart »Young Mungo« vor einer Steinwand. Daneben steht das Zitat aus dem Roman: »Mungos Fähigkeit zu lieben frustrierte sie. Seine Liebe war keine Selbstlosigkeit; er konnte einfach nicht anders. Mo-Maw brauchte so wenig, und er produzierte so viel, dass es reine Verschwendung war. Seine Liebe hatte keiner gesät, und sie blühte an einer Rebe, die keiner hegte. Sie hätte vor Jahren verkümmern müssen, wie bei Jodi, wie bei Hamish. Und doch hatte Mungo all diese Liebe zu geben, die bei ihm herumlag wie überreifes Obst, das keiner einsammelte.« (S. 301)
Buchcover von Douglas Stuart »Young Mungo« mit Zitat aus dem Roman.

Der 15-jährige Mungo wird mehr oder weniger von seiner älteren Schwester Jodie erzogen, die die Fürsorgerolle übernimmt, weil die Mutter durch Alkoholexzesse und Überforderung mit care-Arbeit das eigene Glück mehr außerhalb der Familie sucht. Der älteste Bruder Hamish ist der Anführer der protestantischen Jungsgang im verarmten Arbeiter*innenviertel Glasgows und der Innbegriff gewaltbereiter Männlichkeit. Mungo dagegen ist zärtlich, einfühlsam und so gar nicht kompatibel mit dem ihm bekannten Anforderungen an Männlichkeit. Und verliebt sich auch noch in den katholischen Nachbarsjungen. Die Konfliktlinien des Roman liegen allein an der Konstellation offen da.

Die Rahmenhandlung bildet ein Angelausflug, auf den die Mutter Mungo mit zwei fremden Männern aus ihren AA-Meetings schickt und in dessen Lauf Mungo von ihnen mehrfach vergewaltigt wird.

Douglas Stuart hat eine Sprache, die zwischen expliziter Auserzählung und impliziten Andeutungen hin und her wechselt. Mal wird jede Gewaltszene bis ins kleinste Detail erzählt, mal auch nur durch Verweise oder verdeckte Codes angerissen. Es wechselt zwischen rohen Tönen, die schwer auszuhalten sind und Momenten voller Liebe, Zuneigung und Hoffnung.

An der Stelle möchte ich ein paar Fragen besprechen, die ich mir beim Lesen gestellt habe, um mir selbst einen Zugang zu dem unglaublich gewaltvollen Stoff zu schaffen und die beschriebenen Situationen auszuhalten.

Gibt es eine Meta-Ebene der Männlichkeit?

Worum geht es außerhalb der offensichtlichen Handlungsebene?

Männlichkeit ist das zentrale Thema – oder besser gesagt toxische Männlichkeitsvorstellungen. Stuart beschreibt die schlimmsten Auswirkungen des Patriarchats – von häuslicher Gewalt, Misogynie, Vergewaltigung, Gangkämpfe, fehlende emotionale Sprache – das ganze Programm. Die Frauenfiguren sind alle gezeichnet von der selbstverständlichen Haltung, dass Männer sich alles nehmen können, was sie wollen. Es gibt eine Bandbreite von sexualisierten Übergriffen, ungewollten Teenagerschwangerschaften und gewaltbereiten Ehemännern.

Es gibt die alleinerziehende Mutter ohne festen Job, die einen Ausweg im übermäßigen Alkoholkonsum sucht und deshalb keine Fürsorgeverantwortung für die Kinder übernehmen kann – und fertig ist der Trope der bösen Mutter, die ihre Kinder ruiniert. Und leider bleibt es in »Young Mungo« bei dieser einseitigen Darstellung. Wer die komplexe Frauen- und Mutterrolle lesen will, sollte lieber zu »Shuggie Bain« greifen.

Wann ist der Mann ein Mann? Wenn er gewaltbereit ist, Führung übernimmt, keine Gefühle zeigt, permanent sexuell potent ist und am besten wahllos junge Mädchen schwängert – und falls die nicht da sind, ist es auch ok, Jungs zu vergewaltigen. Einfach Antwort. Alle wissen das, alle kennen dieses Bild. Und teilweise wird angedeutet, dass scheinbar auch alle männlichen Figuren, die diesem Bild entsprechen, in dem Roman drunter leiden. Allein deshalb, weil es harte Arbeit ist, diesen Vorstellungen zu entsprechen – was vor allem in großen Bruder Hamish angedeutet wird.

Auch das ist absolut nichts neues und diese toxischen Männlichkeitsanforderungen werden seit Jahren kritisiert, beschrieben und aufgedeckt. Die einzigen Gegenentwürfe, die Stuart dazu entwirft sind zärtliche, verletzbare schwule Jungs. Und damit sind wir beim nächsten Trope.

Queerfeindliche Gewalt erzählt für ein hetero Publikum

Welches Bild wird von queerem Leben entworfen?

Es ist ein bekanntes Bild, dass schwule Männer, die weiblich zugeschriebene Eigenschaften zeigen, auch verstärkt unter der Gewalt des Patriarchats leiden. Eben weil an dieser Stelle Queerfeindlichkeit und Misogynie zusammenlaufen. Auch das ist keine neue Erzählung, auch das ist bekannt – am meisten den queeren Leser*innen, die diese Gewalt meistens selbst in ihrem Leben erfahren mussten. Was Stuart hier macht, ist diese Gewalt explizit einem hetero Publikum vorzuhalten, auszuerzählen und auf leidiges Mitgefühl zu setzten. Wir sollen mit Mungo mitleiden, dem die absolut schrecklichsten Gewalttaten widerfahren, wir sollen die Menschen, die ihm dies antun hassen und wir sollen um so mehr die Momente der Liebe und Zuneigung schätzen, die uns beispielsweise die zarte Geschichte zwischen Mungo und James liefern.

Doch was gleichzeitig passiert ist, dass wieder nur ein altbekanntes Bild von Queerness, speziell von schwulen Männern, gezeichnet wird, das weit verbreitet ist. Eben weil es oftmals die einzige Erzählung von queerem Leben ist. Eben weil sie zeigt, wie Männer selbst unter dem Patriarchat leiden. Und weil sie von den schwulen Männern erzählt wird, die sich wiederum im patriarchalen System behaupten können, wenn sie diesen Leidensweg überwunden haben. Eben weil sie Männer sind und damit doch Narrative bestimmen können.

Und wenn wir gerade bei altbekannten und schädlichen Tropes sind: Es sei auch kurz erwähnt, dass die Beschreibung des Arbeiter*innen Milieus sich in das altbekannte Narrativ von den einfachen, gewaltbereiten, ungebildeten, faulen und Alkohol konsumierenden Darstellungen des üblichen Klassismus der westlichen Wirtschaftsnationen einreiht.

Entgegen des Hypes

Warum wird dieses Buch so gehypt?

Stuart verwebt in »Young Mungo« die Themen, die gerade überall zu finden sind: toxische Männlichkeit, (männliches) queeres Leiden, intergeneratives Trauma und Klassismus. Und das mit einem narrativen Konzept, das spätestens seit »A little life« von Hanya Yanagihara, sehr gefeiert wird: Das im äußersten Maß ausgestellte Leiden der Hauptfigur, die gebrochen werden muss, um den möglichst drastischsten Effekt bei den Lesenden zu erzeugen. Je krasser desto besser, weil dann wird auch darüber gesprochen. Gleichzeitig gibt es zu Beruhigung noch tiefe Zärtlichkeit auf der anderen Seite, damit Hauptfigur und Leser*innen auch durchhalten.

Ich will damit nicht behaupten, dass die Geschichte von Mungo zu stark fiktional aufgeladen ist. Ganz im Gegenteil. Was geschildert wird, ist leider die Realität von zu vielen Menschen. Auch heute immer noch.

Was daran kritisiert werden muss ist, dass Leid ausgestellt wird. Das Gewalterfahrungen, die Menschen real machen, genutzt werden, muss fiktionale Spannung zu erzeugen und Leser*innen emotional zu ködern. Allein die Rahmenhandlung des Angelausflugs ist das beste Beispiel: Es wird schnell klar, dass eine gefährliche Spannung in der Luft liegt und ein unterschwelliger Horror aufgebaut wird, der den dramatischen Bogen über den kompletten Roman spannt. Spannung mit sexualisierter Gewalt und Vergewaltigung aufzubauen ist respektlos gegenüber den Menschen, die diese Gewalt in ihrem Leben real erfahren. Es ist ein Missbrauch dieser Erfahrungen für narrative Spannung in einer Erzählung.

Die Geschichte und die drastischen Erzählungen rund um Männlichkeit funktionieren in »Young Mungo« auch absolut ohne diese Rahmenhandlung. Es gibt genug andere Erzählstränge, die interessant sind mitzuverfolgen und die Leser*innen an das Buch fesseln. Dazu braucht es nicht Vergewaltungsnarrative. Auch für Mungo als Figur scheint das Narrativ nicht wichtig, denn ganz ehrlich, gebrochen ist der Charakter schon auch so genug, durch die ganze übrige Gewalt. Da muss nicht noch zusätzlich eins drauf gesetzt werden.

Fazit

Gibt es eine Leseempfehlung für »Young Mungo«?

Definitiv nicht. Im Gegensatz zu »Shuggie Bain« ist Stuart hier einen Schritt zu weit in die falsche Richtig gegangen. Statt einer komplexen und vielschichten Erzählung über Familie, Herkunft und Prägungen gibt es in »Young Mungo« eine Reihe an altbekannter und längst dekonstruierter Tropes, die einfach nur nerven. Eher soll explizit vor dem Buch gewarnt werden, weil es so gewaltvoll auf allen möglichen Ebenen ist, dass es mal wieder nur verwunderlich ist, warum Verlage so ignorant sind und nicht mit Inhaltswarnungen drauf hinweisen – Danke Hanser Berlin für diese Gefährdung. Ich musste bei dem Buch mehr self care betreiben, als dass ich ein Lesevergnügen hatte.

Vor der Lektüre

Hier ist eine Übersicht mit Inhaltswarnungen für »Young Mungo« nach Kapitel:

  • Alkoholkonsum/Anhängigkeit: Für das gesamte Buch
  • Alle Kapitel des Angelausflugs (Kapitel: 1, 3, 9, 11, 14, 15, 17, 22, 25, 27): Vergewaltigung, sexualisierte Gewalt, Pädophilie, Mord
  • Kapitel 2: Queerfeinlichkeit, Misogynie
  • Kapitel 5: Kindesmisshandlung
  • Kapitel 8: Queerfeinlichkeit, Klassismus
  • Kapitel 10: häusliche Gewalt, Queerfeindlichkeit
  • Kapitel 13: ungewollte Schwangerschaft, Abtreibung
  • Kapitel 23: Gewaltexzess, Gangkämpfe
  • Kapitel 24: Queerfeindlichkeit
  • Kapitel 26: selbstverletztendes Verhalten

»Young Mungo« von Douglas Stuart ist im Hanser Berlin Verlag erschienen. Die hervorragende deutsche Übersetzung ist von Sophie Zeitz.

*** unbezahlte Werbung, Rezensionsexemplar ***


Eine Hand hält die beiden Bücher »Shuggie Bain« und »A Little Life« mit dem Buchrücken vor einer Steinwand. Davor steht die Überschrift: Leid als Konzept in "Shuggie Bain" und "A Little Life". Oder welchen Unterschied eine own voice Perspektive machen kann.

Lust auf mehr Analyse des Themas Leid als Konzept? Dann klick hier: »Leid als Konzept in „Shuggie Bain“ und „A Little Life“«

One Comment

  • Ingo S. Anders

    Danke für die Warnung vor diesem Buch in dieser Form.
    Und auch dafür, dass ich jetzt endlich begriffen habe, was mit schädlichen Tropes gemeint ist und vor allem, warum immer davon abgeraten wird.

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