Eine Hand hält das Buchcover von Jchj V. Dussel »Aus dem schlafender Vulkan ausbrechen« vor einer Steinwand. Davor steht die Artikelüberschrift: Aus Worten, Vergangenheit und Trauma ausbrechen. Jchj V. Dussels Romandebüt über das Suchen und Befireden der eigenen Identität.
Roman

Jchj V. Dussel: Aus Worten, Vergangenheit und Trauma ausbrechen

TW/CN: Kindstod, Entführung, Queerfeindlichkeit, Rassismus, HIV, Nationalsozialismus

Ein Romandebüt über das Suchen und Befrieden der eigenen Identität

In den letzten Jahren sind eine Reihe an Büchern zu intergenerativen Traumata geschrieben worden. Oftmals geht es darum, welche einschneidenden und gewaltvollen Erlebnissen über Generationen hinweg mitgetragen werden und bewusst oder unbewusst das Leben von Nachkommen beeinflussen. Es sind Fragen von Schuld, Verletzungen, mentaler Gesundheit, Gewalt, Abhängigkeit. Das diese Themen immer mehr behandelt werden, ist ein gutes Zeichen. Es ist ein Weg, mit Trauma umzugehen – ein Schritt der Aufarbeitung, ein Schritt der Verarbeitung.

Auch in Jchj V. Dussels Debütroman »Aus dem schlafenden Vulkan ausbrechen« spielt Trauma eine zentrale Rolle. Die Zwillinge Jakop und Kopja könnten nicht unterschiedlicher sein – ein Kind aufbrausend und raumgreifend, das andere ruhig und gefällig. Jakop verkörpert für Kopja eine unerreichte Form von Männlichkeit, einen Richtwert, eine Orientierung. Doch eines nachts verschwindet Jakop spurlos und hinterlässt ein großes Loch im Leben der ganzen Familie.

Für Kopja wird es noch schwerer einen Platz im Leben zu finden. Gefangen in einer Ohnmacht des eigenen Bewältigungsprozesses und dem seiner traumatisierten Eltern, der Nazi-Oma und der kleinen Schwester. Aber auch gefangen in den konservativen Vorstellungen des Heimatdorfes, in dem jede Abweichung von einer Norm gewaltvoll sanktioniert wird. Wie kann es da für Kopja möglich sein, Worte für sich, das eigene anders sein, das nicht-männlich sein, die eigene Queerness zu finden?

Eine Hand hält das Buchcover von Jchj V. Dussel »Aus dem schlafender Vulkan ausbrechen« vor einer Steinwand. Daneben steht ein Zitat aus dem Buch: Ich drehte mich vor dem Spiegel und schaute mich von allen Seiten, vornehmlich von meiner femininen an, was immer das bedeutete. Ich schämte mich nicht, aber wusste, die Welt schämt sich so gern, also trug ich es für mich allein, weil es mir so hervorragend stand. Dann zog ich das Kleid aus, legte es sorgfältig zusammen und versteckte es hinter dem Spiegel. Sich öffnen, ohne zu explodieren, vielleicht brauchte es dafür auch etwas, in das sich eingekleidet werden musste. Eine Option. (S. 200)
Buchcover und Zitat von Jchj V. Dussel »Aus dem schlafender Vulkan ausbrechen«

Vulkanausbruch der Sprache

»Aus dem schlafenden Vulkan ausbrechen« ist der Versuch eines Ausbruchs auf allen Ebenen. Die Befreiung von Trauma, von Heteronormativität, von der eigenen und der familiären Vergangenheit. Aber auch ein Ausbruch von Wut und Liebe, eine Suche nach Zugehörigkeit und ein Lernen von Akzeptanz – sich selbst und der eigenen Queerness gegenüber. Und von den Motiven daher eigentlich ein typischer (queerer) coming of age Roman.

Doch gleichzeitig hat Jchj V. Dussel etwas ganz einmaliges geschaffen, denn was der Vulkan vor allem ausspuckt ist eine unglaublich poetisch dichte Sprache. Assoziative Wortspiele brechen linguistische Konventionen auf, bringen mit jedem Satz eine weitere Bedeutungsebene, durch die einfache Situationen bildlich bereichert werden. Es ist eine höhe Kunst, so mit Sprache zu experimentieren, dass Bilder geschaffen werden, die mehrere Gefühlszustände gleichzeitig erzeugen und noch auf komplexe gesellschaftliche und emotionale Zusammenhänge verweisen.

Ich glaube manchmal, ich bin auch ein ersie. Dazwischen. Vielleicht bin ich jenseits. Aber bei der O gibt es keinen Raum für sowas.

Jchj V. Dussel »Aus dem schlafenden Vulkan ausbrechen«, S. 80.

Kopjas Ich-Erzählstimme kommentiert das eigene Leben aus einer reflektierten Distanz, die zwischen großer Komik und tiefer Tragik wandelt. Das Narrativ lebt von Diskrepanzen – wenn die Erzählstimme eigene Kindheitserlebnisse von einem viel reiferen Standpunkt aus kommentiert und sich im nächsten Teil im kindlichen Nicht-Wissen und Nicht-Verstehen verliert.

Wenn sich die Wirklichkeit verliert

Jchj V. Dussel spielt mit Sprache im Zusammenhang mit Narration auf so vielfältige Weise, dass die Wirklichkeitsebenen sich verschieben, Unausprechbares nur angedeutet wird und Emotionen einen größeren Raum bekommen als Realitäten. Doch was ist schon real, wenn Traumata ein Leben bestimmen, das an sich schon außerhalb der gesellschaftlichen Normen steht?

Denn Kopja fühlt schon früh, dass Männlichkeit ein unerreichbares Konstrukt ist und bewegt sich als »ersie« irgendwo zwischen und jenseits von Geschlechtern. Vielleicht ist Kopja nicht-binär, vielleicht trans*, doch eigentlich ist das Label auch egal. Es geht um die Erfahrungen und das Gefühl, zwischen den Welten, zwischen den Normen und zwischen den Realitäten der Dominanzgesellschaft zu stehen und was das mit einem Leben macht.

»Aus dem schlafenden Vulkan ausbrechen« ist der Versuch, Worte für das zu finden, was nicht gesagt werden kann oder darf. Für das, was nicht verstehbar ist. Für alles, was sich einer Selbstverständlichkeit entzieht. Für die Lücken zwischen Realität, Emotion und Wahrheit. Doch was ist überhaupt wahr? Und welche Rolle spielt das für jede*n einzelnen, um irgendwie mit der Welt außerhalb und innerhalb des Selbst klar zu kommen?

Ich will an dieser Stelle die Gewalt gegen Menschen wie mich oder generell eigentlich nicht reproduzieren, ich will, dass Sie das wissen, mein Leben ist so schön geworden später, aber das von Scharte war eben nicht so premium und diese Sachen sind nun mal passiert, soll ich sie verschweigen? Eine Gewalt gehört zu dieser Geschichte dazu, solange sie Teil der Welt ist, in der ich aufgewachsen bin […]

Jchj V. Dussel »Aus dem schlafenden Vulkan ausbrechen«, S. 120.

Und ganz nebenbei werden alternative Narrationen zu gewalttätigen Übergriffen aufgezeigt. Es ist nicht die Frage, wie mit Rassismus umgegangen wird, sondern es wird selbstverständlich verbündet gehandelt. Queerness ist vor allem eine Reise und ein Prozess für queere Menschen selbst, das erst zum Problem durch andere gemacht wird. Und deshalb sind Gewalterfahrungen für fast alle marginalisierte Menschen Teil der eigenen Geschichte.

Auch das beschreibt Jchj V. Dussel, aber nicht, um erzähltechnisch zu schockieren, sondern um die Grausamkeit der Welt und die Lebensrealität der Betroffenen aufzuzeigen. Als etwas, was Menschen prägt, doch nicht bestimmt. Denn den dunklen Momenten stehen alle Farbschattierungen des Lichtes gegenüber – Gemeinschaft, Solidarität, Liebe – und vor allem die Kraft und Stärke, selbstbestimmt leben zu können.

Fazit

Wer mir schon länger folgt weiß, dass ich Romane liebe, die mit unzuverlässigen Erzählstimmen in kunstvollen Sprachbilder mit Metaebene Traumata und Queerness in Worte hüllen. Und genau das macht Jchj V. Dussel. Deshalb liebe ich »Aus dem schlafenden Vulkan ausbrechen« – absolute Leseempfehlung!

Vor der Lektüre

Triggerwarnung: Kindstod, Entführung, Queerfeindlichkeit, Rassismus, HIV, Nationalsozialismus

Das Romandebüt von Jchj V. Dussel »Aus dem schlafenden Vulkan ausbrechen« ist im Luftschachtverlag erschienen.

*** unbezahlte Werbung für Rezensionsexemplar ***


Chris vor einer Steinwand hält das Buchcover von »Parabolis Virtualis« vor dem Gesicht, so dass es halb verdeckt wird. Im Vordergrund steht der Titel des Blogartikels: »Parabolis Virtualis: Neue, Queere Lyrik. Warum wir mehr Lyrik lesen sollten«

Mehr von Jchj V. Dussel gibt es auch in dieser wunderbaren Anthologie: »Parabolis Virtualis«

Eine Hand hält das Buchcover von Dragoslava Barzut »Die Nähe verliehren« vor einer Steinwand. Davor ist ein Schriftzug mit dem Beitragstitel: »Schreiben und Erinnern gegen Gewalt und Einsamkeit. Dragoslava Barzut über lesbische Liebe, aufwachsen im Krieg und Fußball«

Und mehr sprachliche Kunst zu Queerness und Trauma hier: »Schrieben und Erinnern gegen Gewalt und Einsamkeit«

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