Eine Hand hält das Buchcover von George Sand »Gabriel« vor einer Steinwand. Davor steht die Artikelüberschrift: Das Theater der Geschlechter. George Sands queer_feministischer Emanzipationsversuch.
Theater

George Sand: Das Theater der Geschlechter

Der queer_feministische Emanzipationsversuch der*s »Gabriel«

Für viele ist die Kritik an Geschlechter_rollen eine Erfindung des 20. Jahrhunderts. Doch das stimmt nicht. Der Kampf gegen die Unterdrückung und Ungleichbehandlung von Geschlechtern ist so alt wie das Patriarchat selbst. Das wir davon zu wenig wissen ist, liegt an Vorherrschaft von männlichen Narrativen – also an Strukturen der Geschlechterungleichheit selbst. Ein Beispiel für frühe queer_feministische Reflexion von Machtverhältnissen ist »Gabriel« von George Sand.

Der erstmals 1839 erschienene Dialogroman, also Theaterstück, »Gabriel« ist ein provokant gewagtes Unterfangen. George Sand beschreibt das Leben von Gabriel, einem jungen Edelmann, der das Erbe seines reichen Großvaters antreten soll. In Abgeschiedenheit aufgewachsen und nach gängigen Männlichkeitsvorstellungen erzogen, erfährt Gabriel als Jugendlicher, dass er als Frau geboren wurde. Doch der Großvater ließ Gabriel als Mann erziehen, damit er*sie Titel und Vermögen bekommt statt des in Ungnade gefallenen Cousins Astolphe.

Doch Gabriel macht sich auf, um Astolphe zu finden – und verliebt sich in ihn. In mitten der Welt zwischen Geschlechterrollen, Liebe, Patriarchat und Identitätskrise versucht Gabriel_Gabrielle sich selbst zu finden und in Freiheit leben zu können.

Eine Hand hält das Buchcover von George Sand »Gabriel« vor einer Steinwand. Daneben steht ein Zitat aus dem Buch: GABRIELLE. Siehst du mein Freund, du findest kein größeres Lob für mich, als mir die Eigenschaften deines Geschlechts zuzuweisen; und doch möchtest du mich oft auf die Schwäche meines eigenen Geschlechts beschränken. Wo bleibt da die Logik?
Buchcover und Zitat aus »Gabriel« von George Sand

Die Schriftstellerin in Männerkleidung

George Sand ist das Pseudonym von Amantine Aurore Lucile Dupin de Francueil (1804-1876), die selbst in Männerkleidern das Haus verließ, um auf der Straße ungestört rauchen zu können – was Frauen zu ihrer Zeit verboten war. Sie veröffentlichte mehrere Romane und gesellschaftskritische Schriften, förderte als Mäzenin den französischen Literaturbetrieb und lebte ihre sexuelle Freiheit mit verschiedenen Affären voll aus. Oftmals galt sie als die laute Frau in der Männerrunde – warum sie noch nicht als feministische Ikone gefeiert wird, ist mir unklar.

George Sand entwickelt mit »Gabriel« eine Tragödie, die auf ganz vielen Ebenen Fragen von Geschlecht und Identität miteinander verknüpft. Schonungslos werden Ideale von Männlichkeit und Weiblichkeit offen gelegt, die mit allen denkbaren Stereotypen verbunden sind. In der gesellschaftlichen Metakritik des Stückes wird deutlich, dass Weiblichkeit mehr ist, als Hure und Heilige, die auch in genau diesen Rollen wortwörtlich auftreten. In der Figur von Gabriel_Gabrielle zeigt George Sand dass Frauen so viel mehr sind, als ihnen vor allem im 19. Jahrhundert zugetraut wird.

ASTOLPHE. Und vielleicht gefiel es Ihnen auch, ein naturphilosophisches Experiment durchzuführen. Und, was haben Sie herausgefunden? Dass eine Frau durch Erziehung genauso viel Logik, Erkenntnis und Mut erwerben kann wie ein Mann. Doch Sie konnten nicht verhindern, dass sie ein empfindsameres Herz hat und dass bei ihr die Liebe über die Hirngespinzte des Ehrgeizes triumphiert.

George Sand, »Gabriel«, Teil 5, Szene 3, S. 131.

Dabei geht es sowohl um Fragen von Geschlechtsidentität, Geschlechterrollen als auch Performance. Denn Gabriel_Gabrielle wandelt zwischen männlich und weiblich und versucht, jeweilige Rollen und Anforderungen zu erfüllen. Dabei wechselt der Paratext (Regieanweisungen) immer zwischen Gabriel und Gabrielle – je nach dem, in welcher Performance gerade aufgetreten wird. Gabrielle nutzt Gabriel, um sich selbst zu emanzipieren und als Mann Freiheiten zu genießen, die Frauen verwehrt werden.

Als Gabrielle lebt Gabriel, um die Beziehung zu Astolphe zu führen – unverheiratet, welch Skandal für die damalige Zeit. Doch passend zum Narrativ der Romantik ist die Beziehung alles andere als gleichberechtigt. Astolphe verkörpert den Archetyp an toxischer Männlichkeit: Besitzergreifend, Überheblich, Unsicher in der eigenen Männlichkeitsperformance und deshalb stets darauf angewiesen, Gabrielle zu unterdrücken, um sich selbst machtvoll zu fühlen.

Drag in Drag in Geschlechtskritik

Das queere Spiel mit Geschlechtsidentität findet den Höhepunkt auf einem Ball, als Gabrielle als Gabriel eine Frau zur Unterhaltung von Astolphe spielt. Drag- und Gender-Performance auf der Metaebene des 19. Jahrhunderts. Großartig.

Allein die Wahl des Mediums Theater ist eine geschlechtliche Metareferenz, da bis ins 16. Jahrhundert alle Rollen auf der Bühne von Männern gespielt wurden. Das zu nutzen, um Kritik an Geschlechterrollen zu üben, ist eine kleine Revolution, die als Roman im 19. Jahrhundert vielleicht keine Veröffentlichung gefunden hätte.

Doch leider macht es den Text für heutige Verhältnisse schwer zu lesen. Theatertexte sind nicht mein bevorzugtes Genre und auf die ausschweifenden Passagen voller wiederholender Gefühlsmonologe kann ich gern verzichten.

Dennoch ist »Gabriel« für mich eine queer_feministische Entdeckung! George Sand zeigt gekonnt die Rekonstruktion und Dekonstruktion von Geschlecht. Und die Unmöglichkeit, sich von der Gesellschaft und ihren Konventionen zu emanzipieren. Denn obwohl Gabriel_Gabrielle alle Handlungsspielräume nutzt, um selbstbestimmt leben zu können und sich auch aus der toxischen Beziehung zu befreien, wird er_sie am Ende ermordet – auf einer Brücke zwischen zwei Ufern. Wie bildlich kann es bitte sein?

Fazit

»Gabriel« von George Sand ist eine für das 19. Jahrhundert überraschende Gesellschaftskritik und präzise Analyse von Geschlechterollen. Ein leider viel zu unbekannter queer_feministischer Klassiker über Identität und Emanzipation, der unbedingt mehr Aufmerksamkeit verdient!

Vor der Lektüre

CN: Misogynie, Sexismus, toxische Beziehung

Der Dialogroman »Gabriel« von George Sand ist in der Übersetzung von Elsbeth Ranke bei Reclam erschienen. Die neue Ausgabe wird durch ein Nachwort von Walburga Hülk ergänzt.

*** unbezahlte Werbung, Rezensionsexemplar ***


Eine Hand hält die Bücher »Orlando« (Virginia Woolf), »Breakfast at Tiffany's« (Truman Capote) und »Giovannie's Room« (James Baldwin) vor einer Steinwand. Davor steht die Überschrift des Artikels: Queere Klassiker. Teil 1 – Baldwin, Capote, Woolf.

Lust auf mehr Klassiker? Dann klick doch hier: »Queere Klassiker. Teil 1«

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