Eine Hand hält das Buchcover von »Every Body« vor einer Steinwand. Davor ist die Überschrift geschrieben: »Wenn "Every Body nicht für alle ist. Oder warum das kein Aufklärungsbuch ist«.
Sachbuch

Wenn »Every Body« nicht für alle ist

CN: sexualisierte Gewalt, Vergewaltigung, Rassismus, Queerfeindlichkeit, Suizid, Tod, mentale Gesundheit

Anmerkung: Am Ende des Textes gibt es eine Auflistung mit Triggerwarnungen für das Buch.

Erzählt uns eure Geschichten

Zwei Journalistinnen stellen sich mit einem selbstgeschrieben Schild mit der Aufschrift »Bitte erzählt uns eure anonymen Sex-Storys!« und einem Stapel Einverständniserklärungen auf eine belebte New Yorker Straßenkreuzung und schauen, was passiert. Nach und nach kommen mehrere Menschen auf sie zu und beginnen zu erzählen – über ihr erstes Mal, ihre sexuellen Vorlieben, Geschlechtskrankheiten, Ängste, Missbrauchserfahrungen und und und. Zusätzlich gibt es noch die Möglichkeit, anonym über eine Website eigene Erlebnisse zu verschiedenen Themenbereichen zu teilen. Was so einfach klingt, führt dazu, dass Julia Rothman und Shaina Feinberg unzählige Geschichten von Menschen rund um Sex und Körper sammeln, die sie 2021 in Buchform veröffentlichen.

Wir hatten eine Sammlung zusammen gesellt […]. Geschichten über Sex und menschliche Körper. Witzige, traurige, angsteinflößende Geschichten. Hunderte solcher Geschichten haben wir zusammengetragen. Sie waren alle verschiedenen. Sie waren alle gleich. Sie sind alle schön.

Shaina Feinberg, »Eicheln«, Schlusswort, »Every Body«, S. 297.

Herausgekommen ist »Every Body – Eine faszinierende Reise durch unsere Welt der sexuellen Lust und Identität«, eine Sammlung aus persönlichen Geschichten, Essays und vor allem vielfältigen Illustrationen einer Vielzahl von Künstler*innen. Das Buch ist in 26 Storys-Abschnitte unterteilt, die unterschiedliche Themen rund um Sex und Körper behandeln, und eine Auswahl der anonymen Einsendungen enthalten. Zwischendrin gibt es Interviews, Essays und Comics von Menschen, die namentlich genannt werden. Die beiden Sammlerinnen, wie sie sich selbst bezeichnen, treten dabei bewusst in den Hintergrund und wollen die einzelnen Texte und damit auch die persönlichen Erfahrungen in ihrer Vielfältigkeit für sich sprechen lassen.

Eine Hand hält das Buch »Every Body« vor einer Steinwand. Rechts daneben steht ein Zitat aus dem Buch von anonym: »Ich will bei allem erst mein Einverständnis geben – und zwar im Sinne von aktiver Zustimmung, wie man das heutzutage nennt. Weil mir körperliche Nähe und Berührung schwerfallen, obwohl ich sie, genau wie jeder andere Mensch auch, brauche. Ich will nur, dass man mich vorher fragt, ob es für mich ok ist.«
Buch »Every Body« mit Zitat

Zwischen Geschichten, Essays und Illustrationen

Die große Stärke von »Every Body« ist die unglaubliche Vielzahl und Vielfältigkeit der Geschichten aber auch der Themenbereiche. Das Buch beginnt beim Thema der sexuellen Aufklärung und Masturbation über Erfahrungen mit dem ersten Mal und verschiedenen Orten, an denen Menschen Sex haben, bis hin zu Sex im Alter und in Zeiten von Covid-19. Auch marginalisierte Themen wie sexuelle Identität, race, sexuell übertragbare Krankheiten, Fetisch und Sexarbeit werden gleichberechtigt mit aufgenommen. Die Erfahrungsberichte sind teilweise komisch und verleiten zum schmunzeln. Sie handeln von dem langen Prozess, sich selbst und den eigenen Körper zu lieben. Und vor allem den unterschiedlichsten sexuellen Bedürfnissen, Lusterfahrungen und Praktiken.

Sex ist etwas wunderbares. Masturbation dagegen ist…purer Wahnsinn. Masturbation ist die ultimative Freiheit. Man kann es alleine tun oder mit Freunden. Selbstbefriedigung ist Sex in Perfektion.

Betty Dodson, 90 Jahre, »Masturbation als Profession«, »Every Body«, S. 35

Meine besonderen Highlight im Buch sind einige der Essays. Vor allem »Masturbation als Profession« von Betty Dodson, einer lebensälteren Frau, die seit Jahren Menschen in Masturbation unterweist, hat mir sehr gefallen. Oder auch der sehr empowernde und inspirierende Text »Intersexualität« von River Gallo, über die eigene inter*-Biographie und den daraus resultierenden Aktivismus. Oder wenn Jude Dry in »Daddys Erwachen« von dem eigenen Erforschen der Dom-Rolle in queeren Kontexten schreibt. Bis hin zu »Werdegang einer Domina« von Mistress Velvet oder »Kein Verfallsdatum« von Gretta Keene über sexuelle Lust im Alter.

In weiten Strecken stellt das Buch die Frage: Warum haben Menschen Sex? Und warum auch nicht? Die Antworten reichen von der Suche nach Nähe, Lustbefriedigung, Steigerung des Selbstwertgefühls bis hin zu Zwängen durch Religion, Gewalterfahrungen oder Unsicherheit mit dem eigenen Körper. Es wird deutlich, welchen Einfluss gesellschaftliche Vorstellungen von Schönheit und Begehren auf uns, unsere Wahrnehmung von Körper, Lust, Begehren und vor allem uns selbst haben. Moralische Tabuisierungen, zum Beispiel durch Religion, werden direkt angesprochen oder bewusst widerlegt. Denn die Erlebnisse, Empfindungen und Erfahrungen von Menschen sind komplex und vielfältig.

Verletzungen lauern überall

Doch natürlich ist Sex nicht nur positiv, sondern immer auch eng verknüpft mit Macht, Gewalt und Diskriminierung. Auch diese Erlebnisse wurden mit aufgenommen und unter anderem in Themenbereichen zu Missbrauchserfahrungen oder Fehlgeburten, Abtreibungen und mentaler Gesundheit gesammelt.

An dieser Stelle wird vor allem deutlich, dass Sex nicht immer lustvoll ist und Spaß macht, sondern auch schmerzhafte und gewaltvolle Seiten hat. Und genau mit diesen geht das Buch absolut nicht sensibel um. Es gibt an keiner Stelle Triggerwarnungen oder Hinweise darauf, dass verscheidene Erfahrungsberichte für Leser*innen traumatisch sein können oder eigene traumatische Erlebnisse erneut hervorruft. Zwar ist absehbar, welche Geschichten unter dem Kapitel »Einvernehmlicher Sex & Übergriffe« gesammelt werden (allein Konsens und Übergriff in ein Kapitel wild durcheinander zu mischen geht nicht klar!), doch schon lange vorher sind mehrfach Missbrauchserfahrungen in anderen Kapiteln thematisiert wurden – oder besser gesagt, in den anonymen Geschichten benannt, ausgeführt und beschrieben wurden.

Ich werde nicht oft zum Sexobjekt degradiert, aber mit dem Gefühl der Objektifizierung kenne ich mich bestens aus; ich werde lediglich in eine andere Objektkategorie gesteckt – in die der Behinderung und Hilflosigkeit, in die eines Menschen der stets dankbar für gut gemeinte Unterstützung ist.

Rebekah Taussig, Essay »Was hat Jessica Rabbit, was ich nicht habe?«, »Every Body«, S. 117.

Nicht auf solche Inhalte im Vorfeld hinzuweisen, ist einfach nur fahrlässig. Denn dadurch werden Leser*innen überraschend an Stellen mit Geschichten konfrontiert, die re_traumatisierend wirken können, ohne vorher selbst entscheiden zu können, ob sie diese gerade lesen wollen. Das bezieht sich nicht nur auf Themen wie sexueller Missbrauch und Schwangerschaftsabbrüche und Abtreibungen, sonder auch auf körperliche und psychische Gewalt, Rassismus, Queerfeindlichkeit, Suizid und Depression, Tod und Krankheitsverläufen, Drogen- und Alkoholkonsum, Sucht, Vaginismus, Essstörungen und und und.

Wo das Buch eindeutig versagt

Es reicht nicht, die Geschichten einfach für sich sprechen zu lassen, sondern es bedarf in vielen Themenbereichen einer Einordnung und einer direkten Aufklärung. Es fehlt komplett eine Aufklärung zu Konsens und einvernehmlichen sexuellen Handlungen, gerade im Kontext von verschiedenen sexuellen Praktiken. Ja, es ist super, dass auch Fetisch und Sexarbeit einen Platz hat, aber es reicht absolut nicht, um mit Vorurteilen und Stigmatisierung von BDSM und Sexarbeiter*innen aufzuklären. Nich klar zu benennen, dass sexuelle Handlungen ohne gegenseitiges Einverständnis Gewalt und Missbrauch sind – gerade im Kontext von Minderjahrigkeit bewegen sich viele Erfahrungsberichte in einem unklaren Bereich, der verstörend wirkt – ist unentschuldbar.

Außerdem fehlt eine klare Positionierung gegen Rassismus, Queerfeindlichkeit und Ableismus. Gerade im Kapitel zu »Ethnischer Herkunft & Zugehörigkeit« gibt es Berichte, die nicht als sexuelle Präferenz, sondern rassistische Aussage gelesen werden können. Dass die Erfahrungen anonymisiert sind ist an sich natürlich super, doch an vielen Stellen gehen dadurch wichtige Elemente wie zum Beispiel sexuelle und geschlechtliche Identität verloren, die wichtig wären, um mehr diverse Repräsentation zu ermöglichen.

Wenn die Übersetzung nicht funktioniert

In dem Zusammenhang ist die Übersetzung von Andrea Brandl und Bettina Spangler auch an mehreren Stellen nicht diskriminierungssensibel bzw. nicht gendergerecht. Es ist teilweise deutlich zu erkennen, dass mit einem generischen Maskulinum übersetzt wird, wenn das englische Original sprachlich geschlechtsneutral ist. Dadurch entstehen in Kontext der Anonymität ein paar absurde Momente, die nicht sofort innerhalb eines Textes aufgeklärt werden, weil unklar ist, aus welcher Perspektive der sexuellen und geschlechtlichen Identität heraus eine Erfahrung geteilt wird.

Und gerade in einem Buch über Sex und Körper machen verschiedene Erlebnisse von cis vs. trans*, inter*, nicht-binär und hetero vs. homo, bi, pan einen erheblichen Unterschied. Durch diese Versäumnisse in der Übersetzung geht ein großteil der queeren Repräsentation verloren – oder zumindest vermute ich das, weil ich es leider nur in Deutsch vorliegen hatte.

Allein die Übersetzung des Titels macht einen großen Unterschied bzw. setzt das Buch von Beginn an in einen anderen Kontext. Während im Englischen Original »An Honest And Open Look At Sex from Every Angle«, also einem ehrlichen und offenen Blick auf Sex von jedem Blickpunkt, die Rede ist, legt der deutsche Titel einen expliziten Fokus auf »Lust« und »Identität«.

Zum Schluss

Noch mal zusammengefasst: Das Konzept von Julia Rothman und Shaina Feinberg, die anonymen Geschichten für sich sprechen zu lassen, geht in so fern nicht auf, als dass die Kuration der Texte nicht ausreichend im Hinblick auf das Thema ist. Entweder fehlen weitere Texte wie Essays oder Interviews von Expert*innen, die direkt über Sachverhalte aufklären oder die beiden Journalistinnen hätten selbst diese Einordnung durch Einschübe vornehmen müssen. Doch so ist das Gesamtergebnis leider unsensibel für den Umgang mit allen komplexen Erfahrungen, die Menschen zum Thema Sex und Körper machen. Und verletzt gleichzeitig die Leser*innen, die eh schon mit negativen und traumatischen Erfahrungen strugglen.

Es war das Beste, was ich aus dieser Situation lernen konnte: Manchmal ist nicht der Sex selbst entscheidend, sondern die Fürsorge, Behutsamkeit und der Respekt, mit denen jemand deinen Körper behandelt.

anonym, »Das erste mal« Stories, »Every Body«, S. 51

Fazit

»Every Body« ist vor allem eins: Eine Geschichtensammlung. Und vor allem eins nicht: Ein Aufklärungsbuch. Es kann eine nette Ergänzung sein, um sich ansatzweise mit der Vielfalt von Sex und Körpern auseinander zu setzten, doch es ist weder sensibel noch pädagogisch genug, um ausreichend zu informieren, mit Vorurteilen aufzuräumen oder ganz banal sexuell aufzuklären.

Vor der Lektüre

Es folgt eine unvollständige Sammlung von Triggerwarnungen für einzelne Geschichten und ganze Kapitel.

Es sind bei weitem nicht alle, da ich nicht von Beginn an vermerkt habe oder mir einige schlicht weg untergegangen sind. Bitte ergänzt doch eure Anmerkungen in den Kommentaren, dann kann ich sie in die Liste aufnehmen.
Vielen Dank!

  • S. 44 f., Essay »Dick« // Sexueller Missbrauch
  • S. 60-67, Kapitel »Religion« // Religion und -szugehörigkeit, institutionalisierter Glaube
  • S. 66f., anonymer Erfahrungsbericht // Sexueller Missbrauch
  • S. 71-73, Kapitel »Ethnische Herkunft & Zugehörigkeit« // Rassismus
  • S. 74ff., Essay »Lust und Liebe in der Stadt der Träume« // Suizid, Psychiatrie
  • S. 78-83, Kapitel »Die Psyche und ihr Zustand« // mentale Gesundheit
  • S. 80, anonymer Erfahrungsbericht // Kindstod
  • S. 81, anonymer Erfahrungsbericht, Beginn 1. Spalte // Krebserkrankung
  • S. 82, anonymer Erfahrungsbericht, Beginn 1. Spalte // Essstörung
  • S. 82, anonymer Erfahrungsbericht, Mitte 2. Spalte // sexueller Missbrauch
  • S. 82, anonymer Erfahrungsbericht, Beginn Ende 2. Spalte // sexualisierte Gewalt
  • S. 83, anonymer Erfahrungsbericht, Beginn 1. Spalte // Alkohol, Sucht
  • S. 91-102, Kapitel »Sexuelle Identität, Orientierung und Erkundung // Queerfeindlichkeit, biologische Familie
  • S. 96, anonymer Erfahrungsbericht, Beginn 1. Spalte // Vergewaltigung
  • S. 99, anonymer Erfahrungsbericht, Beginn 2. Spalte // Fett-Shaming
  • S. 105ff., Essay »Ein Leben mit HIV« // Drogen, Alkohol, Sucht, HIV
  • S. 115ff., Essay »Was hat Jessica Rabbit, was ich nicht habe?« // Body-Shaming, Ableismus
  • S. 119, 2. anonymer Erfahrungsbericht // Transition
  • S. 121, anonymer Erfahrungsbericht // Vaginismus
  • S. 122, 1. anonymer Erfahrungsbericht // Vaginismus
  • S. 180, anonymer Erfahrungsbericht, Beginn 1. Spalte // Drogen, Überdosis
  • S. 191, anonymer Erfahrungsbericht // einvernehmliches Vergewaltigungsszenario
  • S. 232, Essay »Meines Leibes Frucht« // Krankheitsverlauf
  • S. 236-243, Kapitel »Fruchtbarkeit, Schwangerschaft und Fehlgeburt« // Fehlgeburt, Un_Fruchtbarkeit
  • S. 244f., Comic »Dinge, die man nicht über Fehlgeburten wissen will« // Fehlgeburt
  • S. 252-256, Kapitel »Abtreibung« // Abtreibung, sexualisierte Gewalt
  • S. 261ff., Essay »Mein Leben nach sexuellem Missbrauch« // sexueller Missbrauch
  • S. 265-274, Kapitel »Einvernehmlicher Sex & Übergriffe« // sexualisierte Gewalt, Missbrauch, Vergewaltigung
  • S. 287, anonymer Erfahrungsbericht, 2. Spalte // Fehlgeburt

Das Buch »Every Body – Eine faszinierende Reise durch unsere Welt der sexuellen Lust und Identität«
von Julia Rothman und Shaina Feinberg ist in der deutschen Übersetzung
von Andrea Brandl und Bettina Spangler bei Mosaik erschienen.

*** Unbezahlte Rezension für Rezensionsexemplar. ***

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