Leid als Konzept in »Shuggie Bain« und »A Little Life«
CN für den Artikel: sexualisierter Missbrauch, Vergewaltigung, Misshandlung, Alkoholkonsum, Sucht, Selbstverletzung, Suizid, Queerfeindlichkeit
Triggerwarnungen für beide Romane am Ende des Artikels
Welchen Unterschied eine own voice Perspektive machen kann
Es gibt Romane, die gehen direkt unter die Haut. Die fahren in Mark und Knochen – und das auch nicht immer auf angenehme Art und Weise. Zwei dieser Bücher sind »Shuggie Bain« von Douglas Stuart und »A Little Life« (dt.: Ein wenig Leben) von Hanya Yanagihara. Beide Geschichten haben explizite Gewalterzählungen als festen Bestandteil, denn Darstellung von Leid und Schmerz verfolgen jeweils eine bestimmte Absicht. Gerade im diesem Hinblick wurde die Bücher an mehreren Stellen miteinander in Verbindung gesetzt. Doch es gibt einen erheblichen Unterschied: Eines ist eine own voice Erzählung, das andere nicht. Und das wirkt sich erheblich darauf aus, wie eine Geschichte erzählt werden kann und wie sie es lieber nicht sollte.
Bitte nur ein bisschen Leben
Als Hanya Yanagiharas Roman »A Little Life« 2015, in der deutschen Übersetzung von Stephan Kleiner 2017, herauskam, sorgte er für große Aufregung. Denn dieses Buch zu lesen, heißt wortwörtlich zu leiden. Auf knapp 1.000 Seiten wird psychische und physische Gewalt explizit auserzählt, die die Leser*innen direkt in eine Spirale von Missbrauch, Leid, Hoffnung und Ohnmacht hineinzieht.
In dem Roman verfolgen wir Jude, Willem, JB und Malcolm in New York, eine Freundesgruppe, die sich auf dem College kennengelernt hat, wie sie von ihrem jungen Erwachsenenleben immer mehr die Karriere- und Lebensleiter hinaufklettern. Fokus liegt dabei auf Jude, dessen Lebensgeschichte aus sexuellem Missbrauch und Misshandlungen mehr und mehr aufgedeckt wird. Jude ist angefüllt mit Traumata, die jeder Zeit aus ihm herausplatzen und sein Leben kontrollieren. Es wird konkret beschrieben, wie er sich selbst verletzt oder sich umbringen will – und vor allem welche toxischen Beziehungsmuster sich zusammen mit Spiralen von Gewalt wiederholen.
Im Kontrast dazu stehen hoch sensible und emotionale Momente des Supports zwischen den Charakteren, die unterschiedliche Formen von Männlichkeit zwischen Homo- und Bisexualität und freundschaftlicher Unterstützung ausdrücken sollen. Dieses Schwanken zwischen emotionalem Kitsch und Gewalt sind Konzept des Romans – die Leser*innen sollen überfordert und mit dem eigenen Voyeurismus konfrontiert werden, damit sie selbst herausfinden, wie weit sie mit dem Buch gehen können.
Gefangen zwischen Hoffnung und Rückfall
Auch in Douglas Stuarts »Shuggie Bain« wird eine Geschichte erzählt, die zwischen gewaltvoller Verzweiflung und liebevoller Zuneigung schwankt. Es geht um Schottland in den 1980er und 1990er Jahre, um Arbeiter*innen am Existenzminimum während der Thatcher-Ära und Agnes Baine, die aus Depression und Verzweiflung immer mehr ihrer Alkoholsucht verfällt. Obwohl eine sehr stolze und würdevolle Frau will sie mit Bier und Schnaps vergessen – die Armut, die Vergewaltigungen und Misshandlungen, alle Männer, die ihr Gewalt antun, die lästernden Nachbar*innen, die Sehnsucht nach einem besseren Leben.
Es geht aber auch um den kleinen Shuggie Bain, Agnes jüngstes Kind, der schon von den Menschen um ihn herum als »anders« und schwul markiert wird, bevor er selber überhaupt weiß, wer, wie oder was er ist. Und der seine Mutter über alles liebt und sein Leben darauf ausrichtet, sie zu retten.
Hier wird eine Sucht in all ihrer Grausamkeit beschrieben – in einem Strudel aus Abhängigkeit und Hoffnung. Es ist hart zu lesen, wie die Familie Bain zwischen Abneigung, Hass, Liebe, Unterstützung, Aufgabe und Emanzipation gefangen ist. Doch es ist mehr als nur eine Familiengeschichte. Denn Stuart beschreibt Klassismus pur und wie schwer es ist, dem eigenen Umfeld, der eigenen Familie, den eigenen Erfahrungen zu entkommen. Es ist eine Sozialstudie, die schonungslos das Versagen einer Gesellschaft offenlegt, die immer weiter nach unten tritt, um nur ein bisschen Macht verspüren zu können.
Der Leidensprozess der Leser*innen verbleibt auch hier nicht auf der Ebene von graphischen Gewaltdarstellungen, sondern geht in einem Strudel aus Zuneigung und auswegloser Zerstörung auf. Auch wenn klar ist, wo der Weg enden wird – Hoffnung und Liebe sterben hier zuletzt.
Achterbahnfahrt der Gefühle
Sowohl Yanagihara als auch Stuart beschreiben eine Achterbahnfahrt der Gefühle, bei der sich der Leidensprozess der Figuren direkt auf die Leser*innen überträgt. In beiden Romanen geht es um Traumata und eine Spirale aus Missbrauch, sexualisierter Gewalt, Drogensucht und Selbstverletzung. Es geht in beiden Fällen um queere Charaktere, queere Unsicherheiten und Selbstzweifel. Und dennoch auf eine ganz unterschiedliche Weise.
In »A Little Life« sind die Diversitätskategorien der Figuren wie race, Ableismus und Queerness nur schmückendes Beiwerk. Der Rassismus, den Malcolm und JB erfahren wird nur angedeutet, aber nie als Identitätsbestandteil beider Figuren erzählt. Schwules und bisexuelles Begehren und Leben wird als nettes add on für die Handlung betrachtet, aber nie in ihrer gesellschaftlichen oder individuellen Dimension betrachtet. Alles wird dem großen Leid untergeordnet, um noch mehr emotionale Fallhöhe zu erzeugen, die gleichzeitig zu sehr konstruiert ist, als wirklich tragen zu können. Es geht dabei nicht darum, wie realistisch Figuren beschrieben werden, sondern darum, wie nachvollziehbar Motivationen und Gefühle in dem sozialen Gefüge sind, in dem sie sich bewegen.
Ganz anders in »Shuggie Bain« wo alle Figuren emotional komplex gestaltet sind und es vor allem auf die kleinen, feinen Zwischentöne ankommt, die verletzen. Identitätskategorien wie sexuelle Orientierung, Geschlecht und sozio-ökonomische Herkunft werden nicht ausgestellt, sondern in ihrer Gesamtheit und gesellschaftlicher Machtdimension erzählt. Das Patriarchat ist sowohl in den gewaltvollen Männern, die Agnes verletzten zu finden, als auch in den lästernden Nachbarinnen, die sich am gegenseitigen Unglück ergötzten oder in allen, die Shuggie kontinuierlich Queerfeindlichkeit und Gewalt aussetzen.
Er spürte, dass etwas mit ihm nicht stimmte. Etwas in ihm fühlte sich falsch an, falsch zusammengebaut. Es war, als könnten es alle sehen, und er war der Einzige, der nicht wusste, was los war. Etwas war bei ihm anders als bei den anderen, und deswegen war es falsch.
Douglas Stuart, »Shuggie Bain«, S. 189.
All diese Mechanismen werden in ihrer Intersektionalität aufgezeigt, in dem deutlich gemacht wird, wie Klassismus und Heterosexismus zusammenspielen. Es wird gezeigt, wie dies Männlichkeit und Gewalt beeinflusst, aber auch Weiblichkeit und scheiternde Emanzipationsbewegungen. Wie Queerness in einer queerfeindlichen Gesellschaft zu internalisiertem Selbsthass führt. Und dennoch schafft es Stuart, die Figuren nie zu verurteilen oder komplett einseitig zu zeigen. Denn alle sind hier Opfer des Systems und einer Gesellschaft, in der für sie kein Platz ist. Das hat emotional als auch motivational eine große Tragweite und ist zudem noch Systemkritik.
Lebenserfahrung vs. konstruierte Recherche
Auf jeder Seite ist zu spüren, dass Douglas Stuart weiß, wovon er schreibt. Er kommt aus einer langen Tradition von Arbeiter*innen aus Glasgow, ist selbst schwul und die eigene Mutter war Alkoholikerin. Es ist in weiten Teilen seine eigene Geschichte, wenn auch mit vielen fiktionalen Elementen. Und wieder einmal spüren wir direkt die Kraft von own voice Erzählungen, weil sie sowohl emotionale Tiefen als auch gesellschaftliche Machtverhältnisse in ihrem komplexen Zusammenspiel beleuchten. Damit werden mehrdimensionale Momente geschaffen, die literarische Größe ausstrahlen, auch wenn sie mit gewaltvollen und überfordernden Themen operieren.
Ganz anders bei Yanagihara, deren Fokus klar zwischen toxischen Extremen liegt – entweder totale Zerstörung oder überschwängliche Zuneigung, beides ist schädlich. Es gibt kaum Zwischentöne in menschlichen Beziehungen. Und in dieser leeren Mitte wird deutlich, dass der Roman bewusst konstruiert ist und auf Recherchen zu Themenfeldern beruht, die der Autorin nicht vertraut sind. Das ist an sich nicht schlimm, aber in diesem Fall ein Grund, warum »A Little Life« an seiner plastischen Ausgestelltheit scheitert. Denn trotz all der großen Emotionen werden die Figuren nicht mehrdimensional, da sie immer der Gesellschaft enthoben und künstlich wirken – und dafür ist Willems plötzlicher und überschwänglicher Erfolg als Schauspieler nur ein Beispiel.
Der Roman scheitert an seiner Künstlichkeit, die es noch absurder macht, all der expliziten Gewalt zu folgen. Das literarische Experiment, die Leser*innen leiden zu lassen, passt mehr auf der Ebene, sie schonungslos mit Leiden zu konfrontieren, als wirklich emotionale Nähe zu komplexen Figuren und deren Handeln aufzubauen. Und das grenzt an Respektlosigkeit gegenüber Menschen, die tatsächlich diese Erfahrungen machen, die in »A Little Life« nur als Mittel zum Zweck ausgestellt werden. Das eine andere Form von Missbrauch, der durch das Lesen passiert.
Doch auch egal wie wertschätzend Stuart mit seinen Figuren und deren Kontexten umgeht, auch dieses Buch ist gefährlich, weil Leser*innen unvermittelt mit Darstellungen von Gewalt konfrontiert werden, die re_traumatisieren. Fehlende Triggerwarnungen sind hoch problematisch und dass Argument, dass diese die Handlung spoilern würden, entfällt im Fall von »Shuggie Bain«. Die Rahmenhandlung gibt selbst vor, wo die Erzählung hingeht und wir alle können den dramatischen Ausgang eines Abhängigkeitskreislaufs erahnen.
Fazit
Sowohl »A Little Life« als auch »Shuggie Bain« sind harte Kost, die Leser*innen an ihre Grenzen bringen. Und beide Bücher sollten erst gelesen werden, wenn den Leser*innen auch klar ist, worauf sie sich einlassen, um bewusst mit möglichen re_traumatisierenden Elementen umgehen zu können.
Doch während Hanya Yanagiharas Roman in seiner eigenen Konstruiertheit scheitert und zu einem unnötigen Gewaltexzess verkommt, schafft Douglas Stuart einen schrecklich zärtlichen Familienroman, der zugleich Gesellschaftsstudie und Systemkritik ist.
Vor der Lektüre
Triggerwarnungen für beide Bücher: sexualisierter Missbrauch, häusliche Gewalt, Vergewaltigung, Misshandlung,
Drogenkonsum, Alkoholkonsum, Sucht, Selbstverletzung, Suizid, Queerfeindlichkeit.
Hanya Yanagiharas »A Litte Life« ist auf Deutsch in der Übersetzung von
Stephan Kleiner im Hanser Verlag erschienen.
Douglas Stuarts »Shuggie Bain« ist auch beim Hanser Verlag erschienen.
Die unglaublich gute deutsche Übersetzung stammt hier von Sophie Zeitz. Sie schafft es auf hervoragende Weise, der Sprache Stuarts und vor allem dem Dialekt, der über weite Strecken des Buches auch viel Humor und Sympathie für die Figuren liefert, ein deutsches Gegenstück zu geben. Großartige Übersetzung!
*** Unbezahlte Rezension für Rezensionsexemplar »Shuggie Baine«, »A Little Life« ist selbstgekauft. ***
Triggerwarnungen für »Shuggie Bain«
Es folgt eine unvollständige Sammlung von Triggerwarnungen.
Es sind bei weitem nicht alle, da ich durch meine eigenen Erfahrungen und Privilegien auch nicht alles mitbekomme beim Lesen. Bitte ergänzt doch eure Anmerkungen in den Kommentaren, dann kann ich sie in die Liste aufnehmen. Vielen Dank!
durchgängig: Alkoholkonsum, Sucht
S. 46 f. // häusliche Gewalt, Vergewaltigung
S. 75-78 // sexualisierter Übergriff
S. 91 f. // häusliche Gewalt
S. 126 // häusliche Gewalt
S. 139-150 // Queerfeindlichkeit, sexualisierter Übergriff, Misshandlung
S. 189 // Selbstverletzung
S. 190 // rassistischer Sprachgebrauch
S. 218 // rassistischer Sprachgebrauch
S. 234 // Vergewaltigung
S. 248 f. // Queerfeindlichkeit
S. 303 // Queerfeindlichkeit
S. 367 f. // sexualisierter Übergriff, Vergewaltigung
S. 383 f. // Suizidversuch
S. 435 // Queerfeindlichkeit
S. 449 f. // Suizid, Tod
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