Das Filmposter zu »All of Us Strangers« hängt an einer Wand neben Postkarten. Davor ist die Überschrift des Beitrags geschrieben: Trauma überwinden und heilen können. »All of us strangers« von Andrew Haigh mit Andrew Scott und Paul Mescal.
Film

All of Us Strangers: Trauma überwinden und heilen können

Content note/ Inhaltshinweis: Trauma, Trauer, Tod, Selbstmord

All of Us Strangers

Adam (Andrew Scott) ist Mitte 40, Drehbuchautor und wohnt allein in einem fast leeren Londoner Apartment-Komplex. Mit dem Schreiben kommt er nicht richtig voran. Im Fernsehn läuft eine alte Musiksendung und es spielt »The Power of Love« von Frankie Goes to Hollywood. Durch einen Feueralarm muss er eines Abends raus auf die Straße und sieht von unten in der einzig anderen beleuchteten Wohnung Harry (Paul Mescal) am Fenster stehen. Kurze Zeit später klingelt dieser betrunken bei Adam an der Tür, flirtet mit ihm und will reinkommen. Doch Adam lässt ihn zurückhaltend abblitzen.

Um die Blockade zu überwinden, will Adam über seine Kindheit und seine Eltern, die bei einem Autounfall starben als er 11 Jahre alt war, schreiben. Er fährt in einen Londoner Vorort und stellt fest, dass das Haus, in dem er aufgewachsen ist, immer noch steht. Als Adam ziellos durch den Ort streift, trifft er auf seinen Vater (Jamie Bell), der ihn mit zum Abendessen nach Hause nimmt, wo auch seine Mutter (Claire Foy) auf ihn wartet. Beide sind nicht gealtert, sondern wie in Adams Erinnerung eingefroren. Die anfängliche Begegnung ist nach 30 Jahren zaghaft, aber liebevoll.

Als Adam zurück in seinen Apartment-Komplex kommt, trifft er Harry am Fahrstuhl. Dieses mal erwidert er dessen Interesse und zwischen beiden beginnt allmählich eine zaghafte Liebesgeschichte.

Queere Aussöhnung mit den Eltern

»All of Us Strangers« von Andrew Haigh ist eine zärtliche Geschichte über das Heilen eines (Kindheits-)Traumas, die queere Aussöhnung mit den Eltern und den Versuch, die Einsamkeit zu überwinden. Lose Grundlage ist der Roman »Ijintachi to no natsu (異人たちとの夏)« von Taichi Yamada aus 1987 (auf Deutsch »Sommer mit Fremden«, Übersetzung von Ursula Gräfe und Kimiko Nakayama-Ziegler). Doch mit Andrew Haighs Perspektive wird der Originalstoff verqueert und in die moderne Isolation unserer Gegenwart geholt.

An einer Wand hängen Bilder aus dem Film »All of Us Strangers« neben Postkarten. Dazwischen steht der Text: ALL OF US STRANGERS (2023, Searchlight Pictures, Film 4) Regie/Drehbuch: Andrew Haigh Darsteller*innen: Andrew Scott, Paul Mescal, Claire Foy, Jamie Bell

Adam besucht immer wieder seine Eltern. Vor seiner Mutter hat er jetzt mit über 40 sein coming out und sie reagiert zunächst mit Vorurteilen, gefangen in ihrer eigenen Zeit. Oder anders gesagt: genau so wie Adam es von ihr erwartet hat – was die Szene um so tiefer und berührender macht, weil er im weiten Erwachsenenalter offenen mit den internalisierten Vorurteilen aus seinen Kindheit konfrontiert wird, die ihn sein ganzes Leben lang als schwuler Mann geprägt haben.

Beim nächsten Besuch eröffnet im sein Vater, dass dieser immer schon vermutet hat, dass Adam queer ist und wusste, dass er in der Schule dafür gemobbt wurde – aber nie was getan hat, weil auch er in ohnmächtig in der eigenen Queerfeindlichkeit und den Männlichkeitsvorstellungen gefangen ist. Jetzt, 30 Jahre später sprechen Vater und Sohn offenen über ihre Unsicherheiten, Ängste und Schmerz. Sie können sich aussöhnen und das erste mal richtig in den Arm nehmen. Ein Moment der tief ins Herz geht.

All of Us Strangers: Wir sind uns alle Fremde

Es ist keine große Überraschung – ab jetzt Spoiler-Warnung! – doch die Begegnungen mit den Eltern spielen sich nur in Adam ab. Er lässt Mutter und Vater im Haus seiner Kindheit wie Geister auferstehen, um sich mit ihnen auszusöhnen und die tiefe Trauer zu verarbeiten, die er durch dessen frühen Tod das ganze Leben mit sich herum getragen hat. Eine Trauer, die ihn immer isoliert hat und die sich als Einsamkeit auch durch sein Liebesleben zieht.

Das Bild dazu ist die Beziehung zu Harry, dem er sich auch nur Stück für Stück öffnen kann. Beide Männer sind jeweils mit ihrer eigenen Einsamkeit, ihren eigenen Familientraumata beschäftigt, und scheinen in der immer größer werdenden Zärtlichkeit zueinander die Erlösung zu finden. Bis zum Höhepunkt des Films, als Adam in Harrys Wohnung dessen Leiche findet und im bewusst wird, dass sich Harry in der ersten Nacht, als er ihn zurückgewiesen hat, vor Einsamkeit das Leben nahm.

»All of Us Strangers« ist alles: Familiendrama, (queere) Romanze und Geistergeschichte. Es geht um die Geister in uns, unsere Traumata, die wir mit uns tragen und die nur drauf warten, von uns beachtet zu werden. Denn nur wenn wir uns unseren Verletzungen, unserer Trauer und unseren Ängsten stellen, können wir sie bearbeiten und überwinden. Und gerade queere Menschen tragen eine besondere Form der Trauer und des Traumas durch die Queerfeindlichkeit der Welt in sich.

Letztendlich geht es in »All of Us Strangers« vor allem um Heilung und Abschied nehmen. Beim letzten Besuch bei seinen Eltern gehen alle drei gemeinsam in ein Diner in einer Shopping Mall, genau so wie früher. Jetzt ist Adam bereit der ältere und Verantwortungsvolle in der Beziehung zu sein und sie in Frieden gehen lassen.

Nachdem Adam Harry tot in der Badewanne gefunden hat, erscheint dieser ihm wieder als Geist. Statt Harry seinen eigenen Leichnam sehen zu lassen, nimmt er ihm mit in seine Wohnung, sorgt sich um ihn. Auch hier kann Adam jetzt die Verantwortung übernehmen und Harry beruhigen, während wie am Anfang des Films »The Power of Love« von Frankie Goes to Hollywood läuft.

Ein neuer queerer Klassiker

Regisseur und Drehbuchautor Andrew Haigh hat einen zärtlichen, herzzerschmetternden und heilenden Versuch geschaffen, sich mit Traumata auseinander zu setzen. Eine besondere Stärke von »All of us strangers« ist die Intimität zwischen Adam und Harry. Liebe und Sex zwischen zwei Männern wird hier nicht als Spiel zwischen Macht und Männlichkeit gezeigt, sondern als Nähe und Verletzlichkeit – ein Thema, dass Andrew Haigh bereits mit seinem Film »Weekend« oder der Serie »Looking« erkundet hat und die beide schon zu modernen Klassikern des queeren Kinos und TV geworden sind.

Auch Andrew Scott ist ein Meister der Verletzlichkeit. Wieder einmal spielt er in der Rolle als Adam mit Zurückgezogenheit, Emotionalität und einer Tiefe die sich vor allem über seine Blicke und Körpersprache als über Worte ausdrückt. Absolut berechtigt ist der ganze Hype um ihn als Schauspieler, der durch »All of Us Strangers« nach der ganzen sexy Priest Welle von »Fleabag« einen neuen Höhepunkt erreicht hat. Paul Mescal gibt dazu die perfekte Ergänzung. Auch Jamie Bell (»Billy Elliot« ist längst erwachsen) und Claire Foy (»The Crown« Season 1 und 2) sind herzzerreißend wunderbar als Adams Eltern.

Auch Andrew Scott ist ein Meister der Verletzlichkeit. Wieder einmal spielt er in der Rolle als Adam mit Zurückgezogenheit, Emotionalität und einer Tiefe die sich vor allem über seine Blicke und Körpersprache als über Worte ausdrückt. Absolut berechtigt ist der ganze Hype um ihn als Schauspieler, der durch »All of Us Strangers« nach der ganzen sexy Priest Welle von »Fleabag« einen neuen Höhepunkt erreicht hat. Paul Mescal gibt dazu die perfekte Ergänzung. Auch Jamie Bell (»Billy Elliot« ist längst erwachsen) und Claire Foy (»The Crown« Season 1 und 2) sind herzzerreißend wunderbar als Adams Eltern.

Eine Hand hält das Filmplakat von »All of Us Strangers« vor einer Wand mit Postkarten

Abgerundet wird das ganze von einer dunkel blauen Bildsprache, die immer wieder mit warmen Gelbtönen durchbrochen wird – mit den metaphorischen Momenten des Lichts und der Zuversicht in mitten von Trauer und Einsamkeit. Oben drauf kommt noch ein 80er Jahre queer Soundtrack und fertig ist der nächste Klassiker von Andrew Scott.

Fazit

»All of Us Strangers« von Andrew Haigh mit Andrew Scott ist ein zärtlicher und einfühlsamer Film über die Heilung der eigenen Familien-, Kindheits- und queeren Traumata. Absolute Filmempfehlung und schon jetzt ein neuer queerer Filmklassiker.


ALL OF US STRANGERS
(2023, Searchlight Pictures, Film 4)
Regie/Drehbuch: Andrew Haigh
Darsteller*innen: Andrew Scott, Paul Mescal, Claire Foy, Jamie Bell
Produktion: Graham Broadbent, Peter Czernin, Sarah Harvey
FSK 12, 1:45 h

Offizielle Seite des Films: »All of us strangers«


Über einer Hand mit Umbrella Academy Tattoo ist das Logo der Serie mit »4 The Final Season«. Darunter steht die Überschrift des Blogbeitrags: The Umbrella Academy – letzte Apokalypse. Warum Staffel 4 enttäuscht, die Sie aber ein queeres Highlight bleibt.

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