Eine Hand hält das Buchcover von Luca Mael Milsch »Sieben Sekunden Luft« vor einer Wand mit Postkarten. Davor steht die Überschrift des Beitrags: »Wenn die Mutter dir die Luft zum Atmen nimmt. Luca Mael Milschs Debütroman über Frust, Änsgte und Durchatmen«
Roman

Sieben Sekunden Luft: Wenn die Mutter dir die Luft zum atemen nimmt

Luca Mael Milschs Debütroman über Frust, Ängste und Durchatmen

Einatmen. Luft halten. Ausatmen. Den Atem zu regulieren ist nicht nur eine Entspannungstechnik beim Yoga, sondern hilft vor allem auch bei Panikattacken und Angststörungen. Sieben Sekunden Luft anhalten. Sieben Sekunden, um sich selbst regulieren zu können und wieder die Kontrolle zurück zu gewinnen. Sieben Sekunden der Entspannung, der Freiheit, der Selbstermächtigung.

Das sind auch ein paar der Themen von »Sieben Sekunden Luft«, dem Debütroman von Luca Mael Milsch. Mit vier verschiedenen Erzählstimmen werden Stationen aus dem Leben von Selah beschrieben. Vier Stimmen mit eigenen Perspektiven, literarischem und narrativen Stil, die jeweils unterschiedliche Alter, Lebensphasen und Facetten von Selah darstellen. Jede Erzählstimme ist für sich eine eigene Welt, eine eigene Geschichte.

Eine Hand hält das Buchcover von Luca Mael Milsch »Sieben Sekunden Luft« vor einer Wand mit Postkarten. Daneben steht ein Zitat aus dem Buch: [...] das gegenseitige Verletzen, versehrte Körper unter einem Dach, sich gegenseitig versehrende Menschen, eine Familie.«
Buchcover Luca Mael Milsch »Sieben Sekunden Luft« mit Zitat

Drei Stimmen, drei Perspektiven, drei Selahs

In 2017 begegnen wir Selah das erste Mal mit einer auktorial-personalen Erzählstimme. Selah ist ausgebrannt vom Job in der Palliativpflege und nimmt sich gerade eine Auszeit am Meer. Irgendwo zwischen erholen, reflektieren und neu starten werden nach und nach nicht nur der Arbeitsalltag verarbeitet, sondern auch all die Ängste, Zwänge, Lügen und Vermeidungsstrategien, die sich mit Mitte 30 angesammelt haben.

Die zweite Perspektive ist eine Ich-Erzählstimme von Selah als 12 jähriges Kind in 1995. Neben Problemen in der Schule, ungeliebten Klavierunterricht und frühen Erfahrungen mit Queerfeindlichkeit bauen sich bei Selah Unzufriedenheit und Frustration auf. Vor allem auf die alleinerziehende Mutter, die streng und emotional abwesend eigentlich nur ein besseres Leben für Selah will.

In 2006 haben sich Unzufriedenheit und Frust bereits in Gewalt ihren Weg gebahnt. Selahs Perspektive ist jetzt eine Anklage in Du-Form. Denn mit Anfang 20 ist Selah mit sich unzufriedener denn je: Studium klappt nicht, WG-Mitbewohner*innen nerven, Liebesleben ist katastrophal. Selah hat sich noch nicht in ihrer Identität gefunden – oder verliert sich immer wieder selbst. Irgendwo zwischen lesbisch, bi, queer, zu viel Alkohol und Selbstverletzungen scheint Selah ziellos dahin zu trieben.

Atem rauben und Luft holen

Was anfänglich wie drei verschiedene Figuren wirkt, wird immer mehr zu einem komplexen Bild von Selah verwoben und zeigt eine Figur mit Ängsten, Krisen und Enttäuschung in verschiedenen Stufen des Lebens. Kernpunkt dabei ist immer die Beziehung zur Mutter. Die ist von passiv aggressiver Gewalt, gegenseitig enttäuschten Erwartungen und vor allem Leerstellen bestimmt.

Vordergründig wirkt die Mutter-Kind-Beziehung harmlos. Fast alle Eltern haben hohe Erwartungen an ihre Kinder, gerade Alleinerziehende, gerade Arbeiterinnen-Mütter. Alle queeren Kinder und jungen Erwachsene brauchen eine Weile um sich zu finden und sich selbst lieben zu lernen. Doch was Luca Mael Milsch mit »Sieben Sekunden Luft« gelingt, ist in einzelnen Episoden aufzuzeigen, wie Gewalt sich aufbaut, anschleicht, entlädt, abflacht und ihre tiefen Spuren hinterlässt.

Luca Mael Milsch ist Übersetzer*in, Lektor*in und hat Lyrik und Prosatexte in verschiedenen Magazinen veröffentlicht. »Sieben Sekunden Luft« ist Milschs Debütroman, der sprachgewaltig einschlägt und den Atem raubt. Es ist ein sprachliches und narratives Experiment, bei dem sich Atmen als Thema auf allen Ebenen durchzieht.

Einatmen, Luft anhalten, Ausatmen

Denn auch die drei Erzählstimmen und Zeitebenen entsprechen Atemphasen. Das Einatmen ist die Ich-Perspektive des kindlich-naiven Erlebens. Auf Selah strömen viele Erlebnisse ein, eine leicht hibbelige Aufregung liegt in der Sprache, es werden mehrere Anekdoten aus 1995 nacheinander erzählt.

2005 ist das Luftanhalten. Selah stockt förmlich der Atem, so gefangen ist die Hauptfigur in Frustration, Hass auf die Welt, die Mutter, sich selbst. Die erzählte Zeit ist die Reflexion über einen grenzüberschreitenden Besuch der Mutter, der sich in einem Partyabend mit Grenzüberschreitungen im Konsum, Sex, Gewalt und Verletzungen entlädt. Die Atmosphäre ist so beklemmend, dass der Atem ausbleibt.

In 2017 atmen die Leser*innen gemeinsam mit Sehla aus. Die Hauptfigur reflektiert in einer längeren Auszeit von der Arbeit langsam und bedächtig über sich und die eigene Situation. Es ist das narrative Nachwehen der bisherigen Erlebnisse, der Moment nach dem Zusammenbruch, die Entspannung während die Luft aus den Lungen entweicht.

»Mein liebes Kind,
erreiche dich auf dem Handy nicht.
Habe es drei Mal probiert.
Schade, dass es immer so sein muss.
Deine Mama.«

Luca Mael Milsch »Sieben Sekunden Luft«, S. 150.

Im letzten Drittel wird die Narration durch ein sprachliches Atmen unterbrochen – eine Zäsur im Roman, ein Innehalten, ein Atemprozess für Leser*innen bevor die vierte Erzählstimme die Handlung und den literarischen Raum bestimmt.

Selah ist in 2023 angekommen und mit der erneuten Ich-Perspektive wird der narrative Bogen geschlossen. Denn es ist die Phase des Abschieds. Abschied von der Mutter, die auf Grund einer Lungenkrankheit (wieder Thema Atmen) im Sterben liegt. Und damit auch ein Abschied für Selah von den eigenen Ängsten und Unzufriedenheiten. Aber auch der eigenen Unsicherheit, denn mit dem gesundheitlichen Verfall der Mutter nimmt sich Selah immer mehr die Kontrolle über das eigene Leben, die eigene Identität, die eigenen Ziele zurück.

Ein- und Ausatmen der Emotionen

Luca Mael Milsch schafft es sprachlich einmalig Atmosphären, Bilder und Emotionen aufzubauen, eskalieren zu lassen und feinfühlig die Nachwirkungen nachzuzeichnen, nachzufühlen, nachzuspüren. Dabei wird nicht nur ein komplexes Bild von Selah als queerer Person, als verletzten Menschen und als gezeichneten Kind entworfen, sondern auch eine genau so komplexe Beziehung zu einer Mutter geschaffen.

Genau so vielschichtig wie das Eltern-Kind-Verhältnis ist auch die Mutter als Figur gezeichnet. Sie ist nicht nur Schuldige oder Täterin. Sie ist selbst auch Kind mit eigener Mutter. Frau mit einen Problemen, emotionalen Belastungen und zerbrochenen Träumen.

Luft zieht sich auch als Leerstelle und leere Räume durch den Roman. Als alles das, was zwischen Selah und der Mutter nicht gesagt wird. Als die Träume und Erwartungen, die immer wieder wie feine Luftblasen platzen. Oder die fehlende Sprache Selahs, um sich selbst zu beschreiben oder verstehen zu können.

Und spätestens am Ende des Romans müssen auch die Leser*innen mehrmals lang durchatmen, um all die Erlebnisse, Emotionen und Reflexionen über die eigenen Beziehungen zu den eigenen Müttern wirken lassen zu können.

Fazit

Luca Mael Milsch hat mit »Sieben Sekunden Luft« ein sprachgewaltiges Romandebüt geschaffen. Ein narratives Experiment, das Emotionen einatmen, Unsicherheiten, Frustration und Gewalt aushalten und Hoffnung ausatmen lässt. Unglaublich und atemberaubend gut!


Vor der Lektüre

Inhaltshinweise/ Content Notes: Alkoholkonsum, Krankheit, Tod, Selbstverletztendes Verhalten, sexualisierter Übergriff, Essstörung, Misogynie, Queerfeindlichkeit.

Das Romandebüt von Luca Mael Milsch »Sieben Sekunden Luft« ist 2024 im Haymon Verlag erschienen.


Eine Hand hält eine Postkarte mit einem Motiv von Roswitha Hecke vor eine Wand. Davor steht die Überschrift: Queere Literatur und Mutter-Rollen. Über die verschiedenen Darstellungen der Mutter in aktueller queerer Literatur

Du hast Lust auf mehr Queerness und Mütter? Dann klick doch mal hier: »Queere Literatur und Mutter-Rollen«

Leave a Reply

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

WordPress Cookie Plugin von Real Cookie Banner