Sachbuch

Nicht-binäres Leben, Erleben, Überleben

Die Welt außerhalb des Cistems

In der Gesellschaft, in der wir leben, nicht cis zu sein, also nicht in dem Geschlecht zu leben, das bei der Geburt zugewiesen wurde, ist hart. Es ist ein Kampf – um das eigene Leben anerkannt zu bekommen, Aufmerksamkeit und Legitimation für das eigene Erleben zu erhalten und vor allem, in einer Welt zu überleben, die darauf aufbaut, dass Menschen notfalls gewaltsam angepasst innerhalb der Zweigeschlechtlichkeit leben.

Nicht cis zu sein, kann vieles bedeuten: trans*, nicht-binär, gender queer, inter*, gender fluid und vieles mehr – denn die Welt außerhalb der Zwänge von männlich und weiblich ist groß. Und vor allem individuell, weil jeder Mensch das eigene Geschlecht selbst bestimmen kann.

Am diesem leben, erleben und überleben setzt »In Their Shoes. Navigating non-binary life« von Jamie Windust an. Es geht nicht darum, zu erklären, was nicht-binär, trans* oder einfach nicht-cis ist, wie es sich anfühlt oder was es bedeutet. Denn dieses Buch richtet sich in erster Linie an Menschen, die selbst nicht-binär sind. Uns brauchen diese Dinge nicht erklärt werden, denn das wissen wir aus unserem eigenen Alltag und Erfahrungen heraus selber. Sondern es geht geht darum, wie ich, du, ihr als nicht-binäre Menschen das Leben gestalten und erfahren können.

Buch und Zitat »In their shoes« von Jamie Windust

Zwischen Selbstfindung und Selbsthilfe

Damit ist »In Their Shoes« in erster Line eine Form von persönlichem Ratgeber mit einer heiteren Tendenz zum Selbsthilfebuch. Jamie Windust ist Autor*in, Model und hält Vorträge und schreibt hier im klassischen Millennial-Style über die eigenen Erfahrungen und Erlebnisse als nicht-binäre Person und wie they selbst gelernt haben, das Leben zu gestalten. Dabei werden verschiedene Bereiche besprochen, die prägend im Alltag und in der Identitätsfindung sind.

For many trans and non-binary people, we have that element of shame when it comes to expressing ourselves in ways that aren’t deemed ‚traditional‘. Putting on that first pair of heels comes with a huge internal struggle.

Jamie Windust »In Their Shoes«, S. 20.

Es geht darum, wie die ersten Highheels ein wichtiger Schritt zur Findung des eigenen Selbst sein können. Welche outing Prozesse in der Familie notwendig sind und welche Bedeutung selbstgewählte Communities haben. Oder das schöne und leidvolle Thema Dating als nicht-binäre Person. Es geht um mentale Gesundheit und Diskrimnierungserfahrungen und wie Allyship wirklich aussehen sollte. Dabei immer mit einer Mischung aus Wut über die Welt, persönlicher Anekdote und empowernder Lernerfahrung für uns Leser*innen.

Ich konnte viel aus dem Buch mitnehmen – von Lachen, mehr Zufriedenheit mit mir selbst oder einfach nur dem Gefühl, nicht allein, sondern auch noch verstanden zu sein. Ich hatte viele Erkenntnisse und Lernprozesse, die kann ich hier nicht alle teilen. Aber ich möchte ein paar genrelle Dinge auswählen, die mir sehr geholfen haben und auch immer noch helfen:

Ich bin mehr als meine Geschlechtsidentität.

Geschlecht ist eine so wichtige Kategorie in der Gesellschaft, dass du ständig damit konfrontiert bist, wenn du nicht in eine Zweigeschlechtlichkeit passt – wer dahingehend privilegiert ist, wird das wahrscheinlich kaum merken. Als nicht-binäre Person muss ich ständig meine Identität rechtfertigen oder darum kämpfen, anerkannt zu werden. Das fängt allein beim richtigen Pronomen an, Toiletten-Diskussion nur kurz genannt, Kleidungskauf, Umkleidekabinen und Sport, Ausweisdokumente und und und. Da fällt es manchmal schwer nicht aus dem Blick zu verlieren, dass ich noch viel mehr bin.

Wie ich mein Geschlecht lebe, ist meine Entscheidung und nicht die der Gesellschaft.

Wie ich mein nicht cis-sein, mein nicht-binär sein lebe, ist meine Entscheidung. Ich kann Bart und Make Up kombinieren, muss aber nicht jeden Tag ein Kleid tragen. Das ist allein meine Entscheidung. Ich muss nicht besonders performen, um irgendeine Vorstellung von Geschlecht zu erfüllen. Und das schon gar nicht für andere.

[…] now i realize that it is never our duty to educate and tell people how to treat us, especially through our work. It’s up to us as non-binary people to decide when we want to educate and if we want to. We should never be forced to do so, because not only does this have the ability to impact our work life and careers, but it is also a true tax on our mental health.

Jamie Windust »In Their Shoes«, S. 173.
Es ist nicht meine Aufgabe, andere aufzuklären oder die Welt besser zu machen.

Gerade als Person mit vielen Diskriminierungserfahrungen auf verschiedenen Ebenen ist es mir ein Anliegen, andere aufzuklären und damit die Welt und das Leben für queere Menschen ein bisschen besser zu machen. Doch wann und wie, das entscheide ich selbst. Ich bin nicht gezwungen, permanent eine spokesperson für eine Community zu sein – und das kann ich auch gar nicht. Und vor allem, muss ich nicht permanent alles erklären. Educate yourself! Das ist dein fucking job als Ally oder wenigestens als sensibler Mitmensch. Lies zum Beispiel dieses Buch.

Ich bin kein Objekt der Begierde für cis-dudes mit einem Fetisch.

Es tut gut begehrt zu werden. Gerade als Mensch, der nicht gesellschaftlichen Standards oder Normen entspricht. Aber das bedeutet nicht, dass toxische Beziehungen eine gute Idee sind. Selbstbestimmung und Konsens. Punkt.

We are not surrounded by the georgesness of queer relationships on our doorsteps, and not even necessarily on our TV screens or within our books. It was a constant mission to try to find that level of representation so that just for one secound we could feel like we were actually capable of love and tenderness and companionship.

Jamie Windust »In Their Shoes«, S. 70.
Die Welt ist grausam, doch ich bin wertvoll!

Das klingt so einfach, ist aber oft das Schwierigste! In einer Welt, die dir permanent Steine in den Weg legt und dir sagt, wie du zu sein hast oder dass du gar nicht zu sein hast, ist es um so wichtiger, die Liebe zu sich selbst nicht zu verlieren. Denn das ist letztendlich die beste Über_Lebensstrategie.

Fazit

Jamie Windust »In Their Shoes« ist eine unbedingte Leseempfehlung für alle Menschen, die nicht-binär sind bzw. außerhalb der Zweigeschlechtlichkeit leben. Und für die Menschen, die trans* und nicht-binäre Allies sein wollen – hier könnt ihr auch noch viel dazu lernen, denn es ist nicht unsere Aufgabe, euch das zu erklären.

Vor der Lektüre

Triggerwarnung: Queer- und Trans*freindliche Übergriffe werden geschildert.

Leider ist das Buch bisher noch nicht auf Deutsch erschienen. Deshalb gibt es die englische Original Version von Jamie Windusts »In Their Shoes« nur im Verlag Jessica Kingsley Publishers.

Denen von euch, die sich mehr mit Allyship für trans* und nicht-binäre Menschen auseinandersetzten wollen, empfehle ich auch den Vortrag von Jamie Windust im Rahmen von TEDx: »Support for trans people isn’t radical – it’s urgent« (2019, Englisch)

Eine Hand hält das Cover von »Queer. Eine illustrierte Geschichte« vor einer Steinwand. In der linken oberen Ecke sind Kreise in den Farben der Regenbogen-Flagge.

Du weißt noch nicht, was »queer« überhaupt ist? Dann schau mal bei dieser Buchempfehlung vorbei: Wer oder was ist queer?

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