Die Zärtlichkeit von Blau
Eine Comic-Liebesgeschichte schreibt Geschichte
Es gibt tausende coming-out-Geschichten, denn es scheint das beliebteste Thema zu sein, wenn queeres Leben irgendwie Einzug in eine Form von Mainstream erhält. Warum? Vielleicht weil es da ansetzt, wo sich die Mehrheitsgesellschaft zu Hause fühlt: an der Abarbeitung der heterosexuellen Normen. Es geht immer darum, sich selbst zu finden, gegen gesellschaftliche Zwänge zu rebellieren und daran zu scheitern, um letztendlich gestärkt daraus hervor zu gehen. Selten gibt es unter diesen Narrativen eine Geschichte, die mit diesen Elementen spielt, ohne abgedroschen zu wirken. Und noch seltener gibt es sie als Comic. Doch et voila hier ist »Blau ist eine warme Farbe«.
Hier erzählt Julie Maroh die zärtliche und leidenschaftliche Geschichte von Clementine und ihrer Liebe zu Emma. Was mit einer zufälligen Begegnung beginnt, entwickelt sich schnell zu einem Wirbel der Gefühle, Fragen, Selbstzweifel und Ängste. Clementine beginnt langsam und zaghaft, sich sich mit ihrer Sexualität und ihrem Begehren auseinander zu setzten und stellt immer mehr fest, dass sie sich auf verschiedenen Ebenen zu der geheimnisvollen und faszinierenden Emma hingezogen fühlt. Doch es ist ein langer Weg, bis beide selbstbewusst zueinander finden können und Clementine sich gegen die Erwartungen und Vorurteile ihrer Freund*innen, Familie und Gesellschaft behaupten kann.
Magie, die nur ein Comic erzählen kann
Der Comic erzählt sehr filmisch die Geschichte der beiden jungen Frauen. Die Teenage-Jahre von Clementine sind in einem aquarell-grau gehalten, dass nur von den blauen Haaren von Emma durchbrochen wird. Blau ist hier das zentrale Motiv für Leidenschaft, Begehren und Zärtlichkeit, dass sich durch den ganzen Comic zieht und dabei Stimmungen und Assoziationen auch unabhängig von Emmas Haaren weckt. Das ist eine Magie, die nur der Comic schafft: die Grauheit der Außenwelt, die in ihren heterosexuellen Zwängen Clementine farblos und unzufrieden zurück lässt, wird durchbrochen von ihrem Begehren und Verlangen zu Emma, das in leuchtendem Blau immer wieder Akzente der Hoffnung setzt. Ein Farbspiel, dass allein auf der Bildebene schon eine ganz eigene Geschichte neben dem geschriebenen Worten erzählt.
Wir waren zwei Stunden lang allein auf der Welt gewesen, und nichts war mir wichtiger, als sie wiederzusehen. In die blaue Weite ihres Blickes einzutauchen. Mich in ihre Arme zu schmiegen.
Julie Maroh »Blau ist eine warme Farbe«, S. 59.
Julie Maroh schafft es durch die Panel-Struktur und einem Wechsel aus Weit- und Nahperspektiven immer einen Fokus auf die Außenwelt und das Innenleben der Figuren gleichzeitig zu legen. Sind wir Leser*innen in einem Moment von der äußeren Tristesse genau so gefangen, wie Clementine selbst, sind wir im nächsten Panel wieder ganz Nah an ihrer Liebe und ihrem Begehren zu Emma beteiligt.
Die Beteiligung ist dabei nie voyeuristisch oder anstößig, sondern immer intim, fast zerbrechlich und vor allem gefühlvoll. Sehr zärtlich wird dadurch eine Geschichte von der ersten Liebe mit all ihrer Freude, ihrem Verlangen und Schmerz erzählt, die weit über eine klassische Coming-Out-Geschichte hinaus geht. Es geht um zwei Frauen, die sich lieben und auch sexuell begehren, doch nie in ihrer sexuellen Liebe objektifiziert, denn es geht vor allem um Liebe – und diese reine Kraft ist menschlich und nicht geschlechtlich.
Die Liebe entflammt, schläft ein, zerbricht, zerbricht uns, lodert wieder auf… Lässt uns wieder aufleben. Die Liebe kann nicht ewig sein, aber sie verleiht und Ewigkeit.
Julie Maroh »Blau ist eine warme Farbe«, S. 155.
Vor allem nutzt Maroh die stilistischen und technischen Elemente des Comics so gut, dass die Worte eher zu Hintergrundgeräuschen und Rahmenhandlung werden, die die Geschichte unterstützen. Erzählt wird hier vor allem durch die gewaltige Bildsprache.
Das Problem des männlichen Blicks
»Blau ist eine warme Farbe« von Julie Maroh sorgte bereits als Comic-Debüt kurz nach dem Erscheinen 2010 für viel Aufsehen. Doch gerade die Verfilmung von Abdellatif Kechiche von 2013 machte den Comic und vor allem die Geschichte zu einem Hit – und einem Skandal. Denn was oftmals die Kritiken durchzog, war der Vorwurf, dass die Sexszenen im Film zu pornografisch seien. Und an dieser Diskussion wird die größte Diskrepanz zwischen Comic-Original und Filmadaption deutlich.
Während Julie Maroh ihre Geschichte als own voice (also aus der eigenen Erfahrung heraus) mit autobiographischen Elementen zärtlich, intim und mitfühlend erzählt, gleitet der Film an weiten Stellen in die Sicht eines heterosexuellen Mannes auf lesbisches Begehren und Sex ab. Und dieser male gaze ist oftmals nah an Pornografie angesiedelt, weil er von der Objektifizierung der Frauen lebt. Auch der innere und äußere coming out Prozess von Clementine ist im Comic viel besser nachzuvollziehen. Maroh weiß, wovon sie erzählt, wenn Clementine mit sich ringt, ihre internalisierte Queerfeindlichkeit mit ihrem realen Begehren über ein zu bringen.
An diesem gewaltigen Unterschied wird wieder ein Diskurs deutlich, der aktuell im Hinblick auf Repräsentationen Film, Serien und Literatur bestimmt: Wer kann aus welcher Perspektive heraus welche Geschichten erzählen? An hand von »Blau ist eine warme Farbe« ist zu sehen, dass die own voice Perspektive deutlich in künstlerischen und narrativen Aspekten der Fremdadaption überlegen ist.
Fazit
Also auch wenn der Film international bekannter sein sollte, lohnt sich in diesem Fall der Griff zum Original. Denn wer mit Comic-Geschichten hadert muss hier einsehen, dass die Erzählung gerade durch die Bildsprache des Comics überzeugt und eine einzigartige Lechtkraft entwickelt. Und zwar eine blaue und warme.
Vor der Lektüre
Triggerwarnung: Queerfeindlichkeit
Der Comic »Blau ist eine warme Farbe« von Julie Maroh ist auf Deutsch übersetzt von Tanja Krämling und im SPLITTER Verlag erschienen.
Du willst mehr Comics? Dann schau doch mal bei diesem hier vorbei: »Wer oder was ist queer?«
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