Eine Hand hält das Buchcover von Kevin Junks »Fromme Wölfe« vor einer Steinwand. Davor steht die Überschrift: Fromme Wölfe als Beute der Liebe und des Rausches. Kevin Junk über eine Stadt, eine Nacht, ein Lebensgefühl
Roman

Fromme Wölfe als Beute der Liebe und des Rausches

CN: Drogenkonsum

Über eine Stadt, eine Nacht, ein Lebensgefühl

Es gibt unzählige Berlin-Romane. Der Literaturmarkt ist damit genau so überladen wie die Stadt selbst mit all den Zugezogenen aus der ganzen Welt. Gerade junge Menschen zieht es in die deutsche Metropole – um sich auszuprobieren, sich auszuleben und sich fallen zu lassen. Denn Berlin ist arty, Berlin ist hip, Berlin ist street, Berlin ist queer. Und vor allem ist Berlin für seine Clubkultur bekannt. Für scheinbar endlose Partys und After Hours. Für Techno und Rave. Für Drogen und Rausch. Der perfekte Cock_tail für eine ekstatische Nacht (flacher Wortwitz bewusst gewählt) – eine Nacht, die einmalige Abenteuer verspricht. Und ein solches ist auch Kevin Junks Debütroman »Fromme Wölfe«.

Wir treffen auf fünf junge Menschen irgendwo zwischen Anfang und Ende 20, die sich allein oder mit Freund*innen in das Nachtleben Berlins stürzen. Während Tom das freie Wochenende ohne seinen Freund nutzen will, um endlich mal eine richtige Partynacht zu erleben, ist Viktor unterwegs, um seinen neuen Crush Lars zu treffen. Erik freut sich derweilen darüber, endlich mal ein paar Stunden mit Simon zu verbringen, um herauszufinden, ob zwischen ihnen mehr ist, als nur Anziehung. Und Kala lässt sich von der Nacht treiben – oder schwebt vielleicht eher durch sie.

Eine Hand hält das Buchcover von Kevin Junks »Fromme Wölfe« vor einer Steinwand. Daneben steht ein Zitat aus dem Roman: »Ich glaube, der Eskapismus ist keine Flucht vor der Realität. Wir machen uns nur klar, dass die Realität nur ein Abkommen ist, das uns alle dazu zwingt, nach den gleichen Regeln zu spielen, weil das System sonst zusammenbrechen könnte. Wir finden einen Ausweg, und der geht steil in die Highness.« (S. 108)
Buchcover und Zitat aus Kevin Junk »Fromme Wölfe«

Zwischen Ungezwungenheit und der Sehnsucht nach Halt

Die unterschiedlichen Episoden ermöglichen einen Perspektivwechsel auf die gleiche Samstagnacht, auch wenn alle Figuren an dem ein oder anderen Punkt aufeinander treffen. Auch wenn alle scheinbar oberflächlich auf Tanzen, Spaß, Sex, Drogen und Club aus sind, werden sie doch von ganz unterschiedlichen Dingen getrieben. Denn die vielen Begegnungen und geteilten Momente sind doch nur kurze Abschnitte auf den ganz eigenen Lebenswegen der Protagonist*innen. Und über allem schwebt die Frage, ob aus der Flüchtigkeit des Augenblicks doch etwas Dauerhaftes bleibt.

In diesem Wechselspiel zwischen ungezwungenen Anfängen und der Sehnsucht nach Stabilität und Halt scheinen alle Figuren durch die Nacht zu irren, auf der Suche nach Dingen, die sie vielleicht selbst noch nicht genau benennen können, sich nicht eingestehen wollen oder gerade erst dabei sind herauszufinden. Und damit ist der Roman einmalig auf ganz unterschiedlichen Ebenen.

Zum einen zeigt er das rastlose Suchen einer Generation, die scheinbar alle Freiheiten genießt. Es geht dabei um ganz klassische Themen wie sie Suche nach sich selbst, nach den eigenen Prinzipien und Lebenskonzepten. Wer bekommt welchen Platz in der Gesellschaft zugewiesen und welche Räume können von wem erobert werden? Dabei spielt sowohl Berlin als Stadt mitten in der Gentrifizierung als auch die Clubkultur eine entscheidende Rolle, den beide sind unmittelbar mit einander verbunden und beeinflussen sich gegenseitig.

Willkommen im Club

Clubräume haben gerade in queeren Kontexten eine besondere Bedeutung, weil sie immer wieder Rückzugsorte für Menschen waren und sind, die von der Dominanzgesellschaft ausgestoßen wurden. Hier gab und gibt es halb öffentliche Räume, die Freiheit für alle bedeuten, die nicht der heteronormativen Norm entsprechen, sich ihr entziehen wollen oder einfach eine andere queere Identität ausprobieren wollen. Es sind Möglichkeitsräume um dem Alltag und der Außenwelt zu entfliehen. Es gibt eigene Regeln und Verhaltensweisen, die den Clubkosmos diktieren – das ist Ausschluss und Zusammenschluss gleichzeitig.

Manchmal glaube Erik, es gäbe kaum Berliner in Berlin. Lauter zugezogene Deutsche und gefühlt noch mehr Zugezogene aus dem – wie seine deutschen Freunde sagten – Ausland. Berlin war eine Insel inmitten einer immer gefährlicher und ernster werdenden Welt. In Zeiten der Krise begaben sie sich in eine Stadt, die selbst eine offene Wunde war.

Kevin Junk »Fromme Wölfe«, S. 66.

Zur queeren Feierkultur als auch zur Berliner Clubszene gehört ein exzessiver Drogenkonsum, denn erst mit verschiedenen Substanzen scheint die Flucht aus der grauen Realität zu gelingen. Drogen werden genutzt, um die Wahrnehmung zu erweitern, die eigenen Grenzen zu überschreiten, Hemmungen zu verlieren, sich Regeln zu widersetzten, oder um einfach abschalten zu können. Im Rausch und der Verzerrung kann ich ganz nah bei mir oder ganz weit von mir entfernt sein, je nach dem, was ich will. Oder natürlich auch beides gleichzeitig. Bewusstseinserweiterung für den ungezwungenen Moment, ein Verlangen nach mehr – auf der schmalen Grenze zwischen luzidem High und lebensbedrohlichen Absturz.

Einen solchen Trip liefert auch Kevin Junk mit »Fromme Wölfe«. Noch nie habe ich einen Roman gelesen, der das Clubgefühl, den Mischkonsum und die Suche nach ein bisschen mehr Sinnhaftigkeit so auf den Punkt bringt. Dabei ist er an Stellen genau so leicht oder anstrengend und herausfordernd wie eine Nacht im Club mit ordentlich Chemie im Blut – oder wohl eher Hirn.

Auf der ewigen Suche

Doch »Fromme Wölfe« ist auch ein Einblick in eine junge queere (oder viel eher schwule) Generation auf der Suche nach sich selbst. Zwischen ungezwungenem Sex im Club und_oder im Darkroom und der Suche nach Nähe und Geborgenheit. Zwischen Körperbildern und Performancedruck, zwischen Privilegien und Diskriminierungserfahrung. Irgendwo mittendrin und doch nicht genau wissend, wo es hingehen soll. Und das schon fast auf gruslige Weise real.

Was auf der einen Seite faszinierende Stärke des Roman ist, sind auf der anderen die offenen Stellen der Erzählung. Denn auch wenn die Flüchtigkeit und Intensität des Clubs und der Party unglaublich treffend sind, sind gerade die ruhigen Momente, in denen keine Drogen konsumiert werden, die eigentlich interessanten. Wenn ein kurzer Blick auf die Menschen hinter den eigenen Mauern gestattet wird. Jede Figur hat ihre eigenen Verletzungen auf dem Körper und der Seele zu tragen, die nur an einzelnen Stellen durchblicken – genau wie bei allen flüchtigen und oberflächlichen Begegnungen im Club, beim Dating, im Alltag.

Denn das ist der Kunstgriff, der Kevin Junk mit »Fromme Wölfe« gelungen ist: Das Verlangen nach mehr Nähe, mehr Tiefe, mehr Substanz wird über die Figuren und ihr durchfeiertes Wochenende direkt auf die Leser*innen übertragen.

Unter dem Beat

Gleichzeitig wirkt doch wieder alles zu konkret und zu real. Der Roman macht Station an den einschlägigen und klassischen Orten der Berliner schwulen und queeren Szene. Es geht in den Darkroom des Ficken 3000, zur Vernissage im ehemaligen Haus der Statistik, in die Möbel Olfe und natürlich ins Berghain. Und ja, genau dort habe ich gefühlt mit diesen Figuren genau das oder so ähnliche Situationen selbst erlebt. Ich kenne genau diese Kala, diesen Tom, Viktor und Lars, Erik, Simon, Anna, Paul – in meiner Welt haben sie andere Namen, doch bleiben die gleichen. Ich kenne dieses Leben, habe diese Probleme und Sehnsüchte mit den gleichen Drogen so durchgetanzt.

Das sich ein Roman für mich mehr nach Erinnerung als nach Fiktion anfühlt, habe ich so noch nicht erlebt. Was sagt das über mich aus? Was über den Roman? Und was über eine junge queere Generation der 2010er Jahre? Das lass ich an der Stelle andere Leser*innen beurteilen, die vielleicht mehr Distanz dazu haben.

Was mir jedoch in »Fromme Wölfe« fehlt ist eine Innensicht, die auch die unangenehmen Aspekte dieser Clubkultur erzählt – angefangen von rassistischen Türpolitiken, cis-Sexismus, Körpernormierungen und männlicher Dominanz. Den Momenten wenn Berührungen und Blicke zu Grenzüberschreitungen und Gewalt werden. Aus einem lockeren Konsum lebensbestimmende Sucht wird. Klassistische Strukturen und elitärer Habitus Ausschlüsse innerhalb der Clubkultur und Community re_produzieren. Auch das alles passiert an diesen Orten, denn um ungestört feiern zu können und einen safe space zu genießen, gehören auch immer Privilegien, die gerade in diesem Kontext zu selten reflektiert werden.

Fazit

Kevin Junks »Fromme Wölfe« sind sexy und verdrogt, vertanzt und high, verletzlich und zutraulich, anstrengend, schwebend und suchend, einsam und gemeinsam. Der Roman ist ein Zeugnis von einem Lebensgefühl der 2010er Jahre, das genau so wenig wiederholt werden kann, wie eine bestimmte Nacht im scheinbar endlosen Berlin. Und damit genau so einmalig wie ein Augenblick, wie ein Lebensgefühl.

Vor der Lektüre

Triggerwarnungen: Drogen- und Alkoholkonsum

Der Roman »Fromme Wölfe« von Kevin Junk ist im Querverlag erschienen.

*** unbezahlte Rezension für Rezensionsexemplar ***


Instagram Live mit Kevin Junk

Vor einer Steinwand ist ein Bild von Kevin Junk (Foto: Cedric Soltani) mit den Buchcover von »Fromme Wölfe« und »Parabolis Virtualis« abgebildet. Dazu ist in Kreisen der Text geschrieben: LIVE mit Autor Kevin Junk / am 10.11.21 um 19:30 Uhr / über queere Lyrik, Literatur und welche Rolle queere Autor*innen in der Gesellschaft haben.

Du bist neugierig geworden auf den Roman? Dann verpasse nicht das Instagram Live am 10. November 2021, um 19:30 Uhr auf meinem Instagram Kanal mit dem Autor Kevin Junk.

Wir sprechen über den Roman »Fromme Wölfe«, die Lyrik-Anthologie »Parabolis Virtualis« und welche Rolle queere Autor*innen für die Gesellschaft haben.


Chris vor einer Steinwand hält das Buchcover von »Parabolis Virtualis« vor dem Gesicht, so dass es halb verdeckt wird. Im Vordergrund steht der Titel des Blogartikels: »Parabolis Virtualis: Neue, Queere Lyrik. Warum wir mehr Lyrik lesen sollten«

Lust auf mehr queere Texte von und mit Kevin Junk? Dann klick hier: »Parabolis Virtualis: Neue, Queere Lyrik«

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