Roman

Das Leben unter der Glasglocke

Content- und Triggerwarnung für den Artikel: Depression, Suizid, sexualisierte Gewalt.

Sylvia Plath und die Anstrengungen zu Leben

Sie wird geschätzt, gelehrt und verehrt. Sylvia Plath (1932-1963) gehört zu den amerikanischen Schriftsteller:innen des 20. Jahrhunderts. Sie ist heute fast schon eine feministische Ikone. Vor allem ihre Gedichte im Stil der confession poetry (Bekenntnislyrik) oder ihr Roman »The Bell Jar« (Die Glasglocke) finden auch heute noch viele Anhänger:innen.

Warum? Ihre Schriften sind zart, verletzlich, schmerzhaft und haben eine schamlose Unmittelbarkeit mit beißendem Sarkasmus. Sylvia Plath hatte viele Kämpfe in ihrem Leben zu kämpfen – gegen das Frauenbild ihrer Zeit, Depression und mehrfache Suizidversuche, die auch 1963 zu ihrem Tod im Alter von 30 Jahren führten. Menschen lieben es, sich an Skandalen und fremden Leid zu ergötzen und gerade eine leidende Künstler:innenfigur scheint eine besondere Anziehungskraft auszulösen.

Doch wird das alles Sylvia Plath gerecht?

Sylvia Plath »The Bell Jar« mit Zitat

Das Gefühl, eingeschlossen zu sein

»The Bell Jar«, ihr einziger Roman, wurde 1963 unter dem Pseudonym Victoria Lucas veröffentlicht und eher gemischt von der Kritik aufgenommen. In der ersten Hälfte erhält die Ich-Erzählerin Esther als Studentin 1953 für einen Monat ein Praktikum bei einem New Yorker Modemagazin. Sie lässt uns unmittelbar an ihren Erfahrungen mit und in der Großstadt teilhaben, kommentiert zynisch die Erwartungen und die gesellschaftlichen Anforderungen an junge Frauen ihrer Zeit und teilt ihren Frust und ihren Unwillen, sich diesen zu fügen. Vor allem männliche Dominanz, Unterdrückung von Frauen und Emanzipationsstrategien spielen eine wichtige Rolle. Diese Themen kulminieren auf der Handlungsebene in einer versuchten Vergewaltigung am letzten Abend ihres Aufenthaltes, der Esther entkommen kann.

»The problem was, I hated the idea of serving men in any way.«

Sylvia Plath »The Bell Jar«, S. 72.

Zurück bei ihrer Mutter in Massachusetts verfällt sie in eine tiefe Depression und wird nach einem Suizidversuch klinisch-stationär aufgenommen. Die zweite Hälfte des Romans gibt einen tiefen und ungeschönten Einblick in Depression, Selbstmordgedanken und -versuche, Elektroschocktherapien und dem Leben und Überleben in verschiedenen psychatrischen Einrichtungen.

Der Weg zurück ist viel zu steil

Was wie ein typischer New-York-Roman der 1950er und 1960er Jahre beginnt, entwickelt sich auf wenigen Seiten zu einen tiefen und schonungslosen Einblick in das Ringen um mentale Gesundheit, mit psychischen Erkrankungen und deren Behandlung. Der Wechsel zwischen zynischer Gesellschaftskritik und Großstadtanalyse hin zu dem Kampf mit und um das eigene Leben ist drastisch und die Fallhöhe der Emotionen ungemein tief. Die Ich-Erzählerin zieht die Leser:innen unverblümt in das eigene Ringen, die eigene Dunkelheit, Antriebslosigkeit und Verzweiflung hinein. Das ist beim Lesen so schwer auszuhalten, wie Esther selbst nur ihr Leben aushalten kann.

Die Leser:innen machen mit Esther die ganze Entwicklung mit – von scheinbar mitten im Leben zu stehen, bis ganz tief in den Abgrund hinein und den mühsamen Weg zurück. Und das ist eine der Stärken des Romans, denn Plath schafft es wie nur ganz wenige Autor:innen, ganz roh und nah über die dunklen und schmerzhaften Erfahrungen des Lebens zu schreiben. Sie fiktionalisiert und reflektiert in »The Bell Jar« viele ihrer eigenen Erlebnisse im Ringen um mentale Gesundheit. Wie nah an ihrer Realität sie schreibt lasst sich vielleicht auch daran vermuten, dass sie knapp einen Monat nach Veröffentlichung des Romans ihr eigenes Leben beendete.

»I thought the most beautiful thing in the world must be shadow, the million moving shapes and cul-de-sacs of shadow.«

Sylvia Plath »The Bell Jar«, S. 141.

Da ich selbst seit Jahren mit diesen Themen zu kämpfen habe, ist mir der Roman an diesen Stellen besonders nahe gegangen und es war stellenweise sehr schwer auszuhalten. Mehrere Pausen und viel self care Arbeit waren für mich nötig, um gut durch den Roman zu kommen. Leser:innen, denen es ähnlich geht, sollten also genau wissen, worauf sie sich mit »The Bell Jar« einlassen, um selbst entscheiden zu können, ob sie dieses Buch lesen wollen und können oder nicht.

Die zwei Seiten der Medaille

Gleichzeitig ist es um so wichtiger, dass auch diese Themen literarisch behandelt werden. Zum einem, um Aufmerksamkeit auf Themen der mentalen Gesundheit zu legen und betroffenen Menschen das Gefühl geben zu können, mit ihren Kämpfen und Herausforderungen gesehen zu werden. Und das Schreiben darüber als Selbstermächtigung, um aus betroffener Perspektive mit den eigenen Erfahrungen und Emotionen umgehen zu können. Zum anderen, um Außenstehenden einen Einblick in das Leben von Menschen mit psychischen Erkrankungen zu geben und damit auch für diese zu sensibilisieren.

Außerdem schafft es Plath außergewöhnlich gut, die gesellschaftlichen Ansprüche und Erwartungen an Frauen zu entlarven und gesellschaftliche Missstände zu kommentieren. Die Protagonistin Esther will ihr Leben selbst bestimmen – ohne Mann und ohne Kinder und mit einer freien (heterosexuellen) Sexualität.

Der Roman verdeutlicht, dass gesellschaftliche Unterdrückungserfahrungen und mentale Gesundheit sich beeinflussen, aber nicht direkt kausal zusammenhängen. Entgegen verschiedener Interpretationen sehe ich nicht den Sexismus, den Esther erlebt, als Ursache für die psychischen Probleme. Diese Sichtweise wird nicht annähernd Formen und Krankheitsbildern von unter anderem Depression gerecht. Viel mehr erfährt Esther beides gleichzeitig. Dadurch wird deutlich, dass Sexismus als auch psychische Erkrankungen beides indivuduelle und gesellschaftliche Auswirkungen haben. Esther erlebt durch sowohl durch ein starres und reglementiertes Frauenbild als auch durch die Depression und deren Behandlung Unterdrückung und Machtungleichheiten auf mehreren Ebenen.

»A man doesn’t have a worry in the world, while I’ve got a baby hanging over my head like a big stick, to keep me inline.«

Sylvia Plath »The Bell Jar«, S. 212.

Ihre eigenen Unsicherheiten legt Esther offen, in dem sie schamlos über Aussehen, Körperformen, Verhalten und Sexualmoral ihrer Mitmenschen spricht. In der Abwertung anderer legt sie die eigenen internalisierten Ansprüche und deren gewaltvolle Auswirkungen auf das eigene Leben offen. Und doch wird genau dieser Aspekt noch zu wenig deutlich, wenn scheinbar ganz nebenbei body– und fat-shaming betrieben werden oder rassistische Sprache verwendet wird.

Denn in diesen Dingen wird deutlich, dass Figur als auch Autorin die eigenen Privilegien in verschiedenen Kontexten nicht ausreichend reflektieren und zudem der gesellschaftliche Diskurs um kritisches Weißsein und Rassismus für die Mehrheitsgesellschaft noch in den Anfängen war. Die Frage ist, wie kann heute mit diesen Textstellen umgegangen werden. Sie zu kommentieren oder durch Anmerkungen in einen Kontext zu rücken, sind auf jeden Fall Möglichkeiten, um nicht diskriminierende Sprache weiter zu reproduzieren.

Leiden als Fazination

Im Falle von Sylvia Plath, wie auch bei anderen Künstler:innen, wird deutlich, wie eine Inkonisierung durch Medien, Rezeptionen und Fankult an eine Form von Leid des Menschen geknüpft wird. Die realen emotionalen und mentalen Kämpfe geraden dabei in den Hintergrund, weil eine Künstler:in, die besonders »leidfähig« ist, als besonders fazinierend angesehen wird. Dadurch werden Depression und andere psychische Beinträchtigungen gleichzeitig bagatelisiert und zur Schau gestellt, da erst diese Erfahrungen die Schriften Plaths »besonders wertvoll« machen. Und das ist auf mehreren Ebenen problematisch.

Es wird nachlässig mit den tatsächlichen Schmerz umgegangen, den zum einen Plath selbst erlebt hat und den Leser:innen empfinden, wenn sie ihre Schilderungen lesen. Das führt dazu, dass eine Selbstverständlichkeit entsteht, die vernachlässigt, welche Triggermomente in diesen Texten enthalten sind für Menschen, die ähnliche Erfahrungen machen oder hinter sich haben. Für andere Leser:innen entsteht das Moment oder die Einstellung, bei diesen Texten »mal etwas fühlen zu können« oder sich »emotional bewegen zu lassen«, was eine Form von Ausbeutung des Erlebens von Menschen mit Depression, Suiziderfahrungen und anderen psychischen Erkrankungen ist.

Wir brauchen eine Auseinandersetzung, die darauf abziehlt, Menschen, die über ihre eigenen Therapie- und Erkrankungserfahrungen schreiben, als solche anzuerkennen, um sich mit diesen Themen und deren gesellschaftliche Dimension auseinander zusetzten anstatt sich daran zu ergötzen. Das bedeutet auch, in Rezensionen und Besprechungen von diesen Texten, Themen wie Depression und Suizid klar zu bennen, damit jede:r Leser:in selbst entscheiden kann, ob für sie:ihn eine Auseinandersetzung damit auch passend ist.

Es braucht Awareness statt Hype!

Vor der Lektüre

Content- und Triggerwarnung für das Buch in Bezug auf Depression, Suizid, Therapie und psychatrische Einrichtungen, sexualisierte Gewalt, rassistische Sprache.

Das Buch »The Bell Jar« ist im englischen Original bei verschiedenen Verlage zu finden. In der deutschen Übersetzung von Reinhard Kaiser gibt es »Die Glasglocke« im Suhrkamp Verlag.

2 Comments

  • Anne Evers

    Hallo, wir haben heute via Instagram Kontakt gehabt, und ich habe mit großem Interesse Deinen Beitrag hier gelesen. Ich finde den Hype um Sylvia Plath insofern problematisch, als – nach meinem Eindruck – z.B. ihr Buch von vielen LeserInnen gar nicht so rezipiert/verstanden wird … wie sie es geschrieben und gewollt hat. „Ergötzen“ finde ich stark in der Definition. Ich habe mich so sehr mit dem Lebenslauf, ihrer Herkunft, ihrer Herkunftsfamilie, Wahl ihres Partners beschäftigt, weil ich aus Erfahrung der Meinung bin, daß sie an einer Borderline Persönlichkeitsstörung litt und dies für Angehörige eine Lebensaufgabe und für Betroffene großes Leid und Qual bedeutet.

    • queer.bookster

      Vielen Dank für deine Rückmeldung.
      Da stimme ich dir voll zu.
      Was mich stört ist, dass ich oft bei Sylvia Plath und ähnlichen Schriftsteller:innen/ Künstler:innen, dass Werke zu stark mit der schaffenden Person verbunden werden, gerade wenn diese ein Leben gelebt hat oder lebt, dass durch viel Kraftanstrengung, Widrigkeiten und Schmerz andere Leute fazsiniert. Dabei steht aber die Fazination im Mittelpunkt und nicht die tatsächlichen Probleme der Person (und deren gesellschaftliche Dimension) oder deren Werke

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