Eine Hand hält die Bücher »Orlando« (Virginia Woolf), »Breakfast at Tiffany's« (Truman Capote) und »Giovannie's Room« (James Baldwin) vor einer Steinwand. Davor steht die Überschrift des Artikels: Queere Klassiker. Teil 1 – Baldwin, Capote, Woolf.
Roman

Queere Klassiker

Teil 1 – Baldwin, Capote, Woolf

Zwischen queeren Codes versteckt

Gibt es queere Klassiker? Wenn wir an Klassiker denken, dann fallen den meisten sicherlich spontan die alt bekannten weißen Männer ein. Das im literarischen Kanon Diversität Mangelware ist, ist offensichtlich. Dass es vor allem an queeren Repräsentationen mangelt, ist offensichtlich. Doch das hat verschiedene Ursachen.

Zum einen stand und teilweise steht Queer-Sein in jeder Form unter Strafe, wodurch es queeren Autor*innen nicht möglich ist oder war, sich zu outen und offen über ihr Queer-Sein zu schreiben. Denken wir da nur an Oscar Wild, der als gefeierter Autor wegen seiner Homosexualität ins Gefängnis musste. Doch queere Menschen gab es schon immer – auch im Literaturbetrieb. Um Strafen zu entgehen, wurde und wird viel mit queeren Codes gearbeitet. Das sind sprachliche Bilder, Formulierungen oder den Figuren zugeschriebene Eigenschaften, die nicht offen queeres Leben benennen, aber einen Hinweis darauf geben. Meist werden diese Codes auch nur von queeren Menschen verstanden, um einem Outing der Dominanzgesellschaft gegenüber zu entgehen.

Zudem wurden und werden viele queere Geschichten gar nicht erst verlegt, weil viele Verlage glauben, dass diese die Dominanzgesellschaft nicht interessieren würden und damit nicht genug Umsatz gemacht werden kann.

Um so wichtiger ist es, sich die queeren Klassiker anzuschauen, die überliefert, verlegt und veröffentlicht wurden. Deshalb starte ich eine neue Reihe, in der ich immer mal wieder einige dieser Werke kurz vorstelle. Heute starte ich mit drei der bekanntesten queeren Klassiker des 20 Jahrhunderts.


Liebe und Hass in Giovannies Zimmer

James Baldwin »Giovannie’s Room«

CN: Misogynie, Sexismus

James Baldwin ist für mich eine der faszinierendsten Personen des 20. Jahrhunderts – Schwarzer schwuler Schriftsteller, in Armut in New York geboren, Vater Prediger, später (freiwilliges) Exil in Frankreich, Menschenrechtsaktivist mit intersektionalen Perspektiven von race, class und sex in seinen Werken.

»Giovanni’s Room« ist vielleicht seine bekannteste Erzählung, in der die kurze tragische Liebesgeschichte von dem weißen Amerikaner David und dem Barkeeper Giovanni erzählt wird. Sie lernen sich in Paris kennen und verbringen einige Nächste zusammen in Giovannis Zimmer.

Eine Hand hält das Buchcover von James Baldwins »Giovannie’s Room« vor einer Steinwand. In einem pinken Kreis in der linken unteren Ecke steht »queere Klassiker«.

Doch das Tragische ist nicht die Unmöglichkeit der Liebe, sondern der internalisierte Hass der beiden jungen Männer, der alles verhindert. Beide hassen sich selbst dafür, dass ihr Begehren nicht den gesellschaftlichen Männlichkeitsanforderungen entspricht. Sie verachten sich gegenseitig für ihre Gefühle füreinander und schlafen weiterhin normkonform mit Frauen, die sie sowieso abgrundtief hassen, weil sie ja eigentlich Männer lieben wollen und wegen Sexismus und so.

Die Erzählung wirkt wie ein heißer Sommertraum – kurz und flüchtig, doch so intensiv, dass beim Lese die Hitze in Giovannies Zimmer gefühlt werden kann und die Straßen von Paris zum Leben erweckt werden. Und gleichzeitig ist alles von einer emotionalen Kälte und Distanz durchzogen, in der Abfälligkeiten und Abwertungen hinter jeder Ecke lauern.

Baldwin zeigt mit »Giovannie’s Room« wie Heteronormativität und toxische Männlichkeitsvorstellungen ein positives Selbstbild von homosexuellen Männern zerstören kann und wie gleichzeitig die Abwertung von Weiblichkeit re_produziert wird. Und das sind Mechanismen, die 1956 beim Erscheinen des Buches genau so wirksam waren, wie auch heute noch. Denn Misogynie, Sexismus und männliche Dominanz sind auch heute noch Probleme in queeren Communities. Denn das Patriarchat verhindert die Liebe zu sich selbst und zu anderen und fördert vor allem Hass.

Vor der Lektüre

James Baldwins »Giovannie’s Room« ist bei verschiedenen Verlagen erschienen. Die Ausgabe aus dem Bild ist aus der Reihe Penguins Classics.

In der deutschen Ausgabe ist »Giovannis Zimmer« von Miriam Mandelkow neu übersetzt und im Deutschen Taschenbuch Verlag (dtv) erschienen.


Mehr als nur Audrey Hepburn

Truman Capote »Breakfast at Tiffany’s«

CN: Rassismus

»Breakfast at Tiffany’s« ist einer der bekanntesten Filme überhaupt – gerade Audrey Hepburn in dieser Rolle ist durch_ikonisiert. Wenige wissen, dass die Vorlage für den Film eine Erzählung von Truman Capote aus dem Jahr 1958 ist. Und die ist an einigen wichtigen Punkten radikal anders als die Filmadaption.

Eine Hand hält die Buchcover der deutschen und englischen Ausgabe von Truman Capotes »Breakfast at Tiffanie's« vor einer Steinwand. In einem pinken Kreis in der linken unteren Ecke steht »queere Klassiker«.

In »Breakfast at Tiffany’s« erinnert sich ein namenloser Autor an seine faszinierende Nachbarin Holly Golightly, mit der er während des 2. Weltkriegs zusammen in einem Haus in New York wohnte. Viel Handlung gibt es nicht, da die Erzählung vor allem aus Anekdoten und Episoden besteht, welche die liebevoll wachsende Beziehung beider beschreiben. Und die ist vor allem eins: Platonisch. Auch wenn nie offen ausgestellt, gibt es unendlich viele queere Codes, die auf das Schwulsein des Erzählers und auf die Bisexualität von Holly verweisen.

Beide bilden für sich ein wichtiges Supportsystem, eine Wahlfamilie, um zwischen Krieg, Armut und Patriarchat ihre großen Träumen nicht zu verlieren. Gleichzeitig erfindet Capote mit seiner Holly eine junge Frau, die sich selbstbewusst gegen männliche Dominanz, Unterdrückung und Gewalt stellt – eine beeindruckende feministische Figur sowohl für den Kontext der Erzählebene als auch für den Kontext, in dem das Buch veröffentlicht wurde.

(Anmerkung am Rande: Capote ist sowieso eine spannende Autorenfigur, weil er selbst offen schwul in einer Zeit lebte, in der das keines Falls selbstverständlich war und viele seiner Erzählungen von queeren Codes durchzogen sind, die sich vor allem an queere Lesende richten.)

»Breakfast at Tiffany’s« ist für mich ein Buch, das ich immer mal wieder gerne vornehme, weil Capote eine unglaublich humorvolle und schlaue Sprache verwendet und die queere Freund*innenschaft der beiden Protagonist*innen Spaß und ein warmes Herz gleichzeitig macht. Ganz anders der Film, der neben dem Auslöschen der Queerness auch noch unfassbare Rassismen reproduziert – das Buch sprachlich an ein paar Stellen leider auch. Ihr merkt schon, Film ist Schrott, Buch ist hot!

Vor der Lektüre

Truman Capotes »Breakfast at Tiffany’s« ist bei verschiedenen Verlagen erschienen. Die Ausgabe aus dem Bild ist aus der Reihe Penguins Classics.

In der deutschen Ausgabe ist »Frühstück bei Tiffany« von Heidi Zerning übersetzt und bei Kein & Aber erschienen.


Wandeln zwischen Geschlechtern und Zeiten

Virginia Woolf »Orlando«

CN: mentale Gesundheit, Rassismus

In ihrem 1928 erschienen Roman »Orlando« begleiten wir einen jungen englischen Edelmann aus der Zeit Elizabeth I., der über Nacht sein Geschlecht wechselt und als Frau mehrere Jahrhunderte durch die Geschichte Englands wandelt.

Eine Hand hält das Buchcover von Virginia Woolf »Orlando« vor einer Steinwand. In einem pinken Kreis in der linken unteren Ecke steht »queere Klassiker«.

Virginia Woolf verbindet gekonnt Gesellschaftssatire mit Historienepos und schafft einen frühen queer-feministischen Perspektivwechsel in der Literatur. Es geht nicht darum, wie und warum Orlando das Geschlecht wechselt, sondern welche unterschiedlichen Erfahrungen dadurch in der Gesellschaft gemacht werden und wie sich das auf zwischenmenschliche Beziehungen in verschiedenen historischen Kontexten auswirkt.

Doch zwischen den absurd witzigen Stellen des Romans mischt sich immer wieder eine tiefe Melancholie, denn eigentlich ist Orlando allein, durch ein scheinbar ewiges Leben und als Außenseiter*in in der Gesellschaft dazu verdammt, den Wandel der Welt zu ertragen.

Und diese tiefe Melancholie ist es, die mich immer wieder zu Virginia Woolf zieht. Ja, sie ist keine fehlerfreie feministische Ikone – an vielen Stellen ihrer Werke werden antisemitische und rassistische Bilder und Sprache bedient, so auch in »Orlando«. Das ist mit Vorsicht und einer kritischen Brille zu genießen.

Und gleichzeitig war sie eine queere Frau, die gegen gesellschaftliche Anforderungen und Erwartungen rebellierte und Zeit des Lebens mit ihrer mentalen Gesundheit gerungen hat. Schreiben ist hier ein Mittel, um irgendeinen Ausdruck für das eigene Seelenleben zu finden. Das in Worte zu fassen, für das es bisher keine Sprache gab. Und das schafft Woolf nicht nur durch den meisterhaften stream of consciousness sondern auch durch ein einfühlsames und komplexes Innenleben ihrer Figuren. In deren Ringen und Kämpfen ich mich immer wieder gesehen fühle – und das gibt mir Kraft.

Vor der Lektüre

Virginia Woolfs »Orlando« ist bei verschiedenen Verlagen erschienen. Die Ausgabe aus dem Bild ist aus der Reihe Penguins Classics.

Die deutsche Ausgabe von »Orlando« findet sich unter anderem in der neuen Übersetzung
von Melanie Walz im Suhrkamp | Insel Verlag.


Noch ein Klassiker des 20. Jahrhunderts gefällig? Dann klick doch mal hier: »Das Leben unter der Glasglocke«

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