The Umbrella Academy: die letzte Apokalypse
Warum Staffel 4 enttäuscht, die Serie aber ein queeres Highlight bleibt
Als die erste Staffel von »The Umbrella Academy« Anfang 2019 von Netflix veröffentlicht wurde, war sie sofort ein Überraschungshit: Sowohl Kritik als auch Fans feierten die Superheld*innenerzählung für ihre Innovation, Tiefgründigkeit, stilistische Bildsprache und liebenswürdiges Figurenensamble. Die Serienverfilmung der Comics von Gerard Way und Gabriel Bá überzeugt neben bildsprachlich ästhetischen Actionszenen, der Mischung aus Superheld*innen und Zeitreise vor allem durch die Kernthemen von Traumabewältigung und dysfunktionalem Familienleben. Der diverse Figuren- und Schauspieler*innen-Cast hat schnell ein breites Fandom gewonnen, zu dem auch viele Queers gehören.
Im August 2024 läuft jetzt die finale vierte Staffel der Serie von Showrunner Steve Blackman auf Netflix an. Der große und lang ersehnte Abschluss – bleibt leider enttäuschend hinter allen Erwartungen zurück. Und trotzdem ist und bleibt »The Umbrella Academy« eine der wichtigsten queeren Superheld*innen-Serien aller Zeit.
*** Achtung! Minimale Spoiler für einzelne Staffeln und Handlungsstränge bis »Und trotzdem iconic queer!« ***
RECAP – Was bisher geschah
Und immer wieder muss die Welt gerettet werden
Am 01. Oktober 1989 gebären überall auf der Welt 43 Frauen Kinder, die zu Beginn des Tages noch nicht schwanger waren. Diese Kinder haben Superkräfte und sieben von ihnen werden vom exzentrischen Milliardär Sir Reginald Hargreeves (Colm Feore) adoptiert und in ein Team von Superheld*innen geformt: The Umbrella Academy.
In 2019 kommen die Geschwister das erste mal seit Jahren wieder zusammen. Anlass ist der überraschende Tod ihres Adoptivvaters. Luther (Tom Hopper) – Number 1 – ist ein Muskelpaket, halb Affe, halb Mensch und lebte die letzten Jahre in geheimer Mission auf dem Mond. Number 2 – Diego (David Castañeda) – kann dank Telekinese sich bewegende Objekte lenken und versucht als one-man Team Verbrechen zu verhindern. Außerhalb des Umbrella Academy ist Allison (Emmy Raver-Lampman) – Number 3 – erfolgreiche Hollywood-Schauspielerin und Mutter. Sie kann mit der Wendung »I heard a rumor…« Handlungen und Gedanken von Menschen beeinflussen.
Von den eigenen Kräften mit den Toten zu kommunizieren überfordert, beträubt sich Klaus (Robert Sheehan) – Number 4 – schon seit Teenagerzeiten mit allen verfügbaren Substanzen. Doch er allein kann noch mit Ben (Justin H. Min) – Number 6 – kommunizieren, der während einer Mission tödlich verunglückte. Number 7 (Elliot Page) – Viktor (und nein, auch eine fiktive Rolle wird nicht gedead-named) – hat scheinbar keine Superkräfte, wurde aber von Kindheit an mit Tabletten von Reginald ruhig gestellt, weil er eigentlich die größte Gefahr darstellt.
Number 5 (Aidan Gallagher) war mehrere Jahre vermisst, weil er aufgrund seiner Fähigkeit durch Raum und Zeit zu springen, in der Zukunft feststeckte. Doch er schafft es pünktlich zur Beerdigung zurück – mit der Mission die Apokalypse zu verhindern, die in wenigen Tagen droht.
Das Kindheitstrauma ist schon im Grundkonzept erkennbar. Ihrem Vater kam es nur auf die Superkräfte an, deshalb gab er ihnen auch nur Nummern statt Namen und die Kinder wurden schon von früh an mit rigider Disziplin, Wettbewerb, Gewalt und Tod konfrontiert. Alle Geschwister kämpfen mit ihren eigenen Traumata und sind untereinander zerstritten, eifersüchtig oder mit diversen anderen Konflikten beladen. Doch nur zusammen können sie die drohende Apokalypse verhindern und die Menschheit retten…
Ästhetische Action zwischen Trauma und Humor
»The Umbrella Academy« Staffel 1 (2019) und Staffel 2 (2020) waren innovativ für das Superheld*innen-Genre, weil das Zusammenspiel von dark comedy, poetischer Action-Szenen, tiefgreifenden Familiengeschichten über Trauma in der Kindheit und Diskriminierungserfahrungen (vor allem Rassismus und Queerfeindlichkeit), spannenden time travel Erzählssträngen und over the top camp villains einmalig ist. Zwischen Gewalt und bildreicher Kampfszenen steht die Familie im Mittelpunkt: Eine Familie, die sich immer wieder selbst füreinander entscheiden muss, nicht nur um die Apokalypse zu verhindern, sondern auch um gemeinsam emotional und psychisch heilen zu können.
Beide Staffeln ähneln sich im Konzept, doch mit der Ort und Zeitverschiebung ins Dallas der frühen 1960er Jahre wird der Ton der zweiten Staffel stark politisiert. Durch die Pandemie veränderten sich auch die Produktionsbedingungen für Staffel 3 (2022). Alles rückt enger im Hotel Obsidian zusammen: die Charaktere sind emotional direkt mit einander konfrontiert und Handlungstränge bündeln sich in Raum und in Zeit. Ende 2020 gab es zudem das öffentliche coming out von Elliot Page, dem größten Hollywood Star im Cast. Seine Transition findet sich auch in der Serie wieder und wird Teil der Entwicklung seines Charakters Viktor.
Dadurch verändert sich auch die hero-villain-Dynamik der Serie: Mit der Transition von Viktor erfolgt die Emanzipation vom unfreiwilligen villain. Er übernimmt die Kontrolle über seine Geschichte und Kräfte wird zum hero. Allison dagegen muss mit dem neuen Trauma der letzten Staffel umgehen und baut damit eine klassiche villain origin story auf.
We only see each other at weddings and funerals
Mit Staffel 3 schließt sich in vielen Aspekten der Rahmen der Geschichte: Die Geschwister rücken emotional stärker zusammen, lernen sich gegenseitig zu unterstützen und Gefahren von außen und innen zu bearbeiten. Der Entwicklungsprozess wird an den beiden Tanzszenen der jeweiligen ersten Folgen am besten deutlich: In Staffel 1 tanzen noch alle für sich allein in ihrer alten Familienvilla, während sie in Staffel 3 mit einer gemeinsamen Choreo als symbolische Kampfszene gegen die rivalisierende Sparrow Academy antreten.
Was bringt eine Familie zusammen? Hochzeiten oder Beerdigungen. So heißt es in der aller ersten Folge. Und mit dem Tod ihres Adoptivvaters Reginalds beginnt die Erzählung über die dysfunktionale Hargreeves Familie. In Staffel 3 schließt sich der Kreis mit der Hochzeit von Luther und Sloan (Genesis Rodriguez) am erneuten Ende der Welt. Eigentlich ein poetischer Bogen, der ein guter Abschluss hätte sein können. Wäre da nicht der große Cliffhanger am Ende von Staffel 3, bei dem die Geschwister nach der dritten verursachten Apokalypse in der nächsten Zeitebene landen – aber jetzt ohne ihre Superkräfte.
REVIEW Staffel 4 – die finale Zeitebene
Das erste mal ohne Superkräfte? Ein spannender Ausgangspunkt für die vierte und letzte Staffel der »Umbrella Academy«. Mit einem Zeitsprung von sechs Jahren sind die einzelnen Charaktere zunächst auf sich und ihre eigenen Leben konzentriert. Hier erreicht die Show die humoristischen Höhepunkte von Staffel 1 und 2 und öffnet einen erzählerischen Raum, den es gelohnt hätte tiefer zu erkunden. Durch den Geburtstag von Diego und Lilas (Ritu Arya) Tochter und die Entführung von Viktor finden alle Geschwister wieder zusammen und haben im nächsten Augenblick auch schon ihre Superkräfte wieder.
Schon nach der zweiten Folge wird das große Problem der vierten Staffel deutlich: Fast alle Handlungsstränge sind nicht auserzählt oder wirken überflüssig. Mit sechs statt der üblichen zehn Folgen ist die finale Staffel eh schon kürzer als alle bisherigen. Doch entweder sind die sechs zu wenig für ein gutes Konzept oder doch gar zu viel für die uninspirierten Narrationen.
Fast alle Kernthemen der Serie verschwinden und weichen inhaltsleeren Actionszenen oder Sequenzen, die im nichts enden. Was ist in den sechs Jahren Zeitsprung zwischen Staffel 3 und 4 passiert, dass auf einmal alle Traumata und Konflikte verschwunden sind?
Handlungsstränge, die im Nichts verlaufen
Der Wandel von Allison, die in Staffel 3 noch als villain fungierte, zurück zum hero mit emotionaler Ausgeglichenheit als wäre nichts gewesen ist zwar notwenig für die Repräsentationen, denn wir wollen keine Dämonisierung einer Schwarzen Frau durch Rassismus und Verlust der Familie, für die Figur aber unplausibel.
Luther hat in Staffel 3 gerade erst Sloan geheiratet und kurz drauf verloren – dramatisch! Was ist mit seinem Schmerz und Verlust? Für Staffel 4 scheinbar uninteressant. Es wirkt in großen Teilen so, als ob Luther nicht wichtig genug ist, um ihn und seine Geschichte zu würdigen.
Dafür darf er einen Schnuppertag mit Diego bei der CIA absolvieren. Der bringt beiden Figuren außer gute Actionszenen leider gar nichts. Denn das ist eine verpasste Chance um in die unterliegenden Konflikte der Figuren einzutauchen: der Angst vor Bedeutungslosigkeit in Zeiten verändernder Männlichkeitsideale hätte gerade an der Stelle für Handlung, Figuren und politische Hintergründe gut gepasst.
Ohne die Kraft von den Toten zurück zu kehren, erleben wir zu Beginn einen abstinenten Klaus, dessen Leben von OCDs und Ängsten geprägt ist. Eine neue und spannende Facette des Charakters, die einfach ungeachtet liegen gelassen wird. Stattdessen ist der Handlungsstrang von Klaus überflüssig, weil er nichts zum Gesamtnarrativ beiträgt, keine Charakterentwicklung bietet und noch nicht mal unterhält.
Die Nebenhandlung von Five und Lila ist das einzig ansatzweise spannende Narrativ, weil hier die geliebten time travel Elemente auf emotionale Tiefe und Konfliktpotential für das Gesamtgeschehen treffen. Doch so viel Möglichkeiten da auch drin stecken, wirkt es am Ende eher wahllos, unterkomplex für die Charaktere und leider auch verschenktes Potential.
Einzig bei Viktor gibt es einen Anschluss an vorherige innere Konflikte und er darf sich jetzt ansatzweise mit seinem Adoptivvater aussöhnen. Doch auch Reginald ist nicht mehr voller geheimer Pläne, versteckter Motivationen und Manipulationen, sondern nur in der Handlung anwesend.
Der 6-jährige Zeitsprung schafft den Raum, viel unerwähnt zu lassen und so zu tun, als wär das alles off cam passiert und muss uns deshalb nicht interessieren. Dabei hätten genau diese sechs Jahre eine interessante erste Hälfte bieten können, die an die Stärken der vorherigen Staffeln anknüpft und die jetzigen sechs Folgen als besseres Finale eingeleitet hätte.
Verschenktes Potential mit Cast-Neuzugängen
Auch die neuen hervorragenden Cast-Neuzugänge werden in ihren Möglichkeiten nicht genutzt. Die Comedy-Icons Megan Mullally (Will & Grace) und Nick Offerman (Parks and Recreations) können ihr Potential als absolut liebenswürdig-witziges villain couple zwar andeuten, doch bekommen gar nicht den Raum, um zu Fanlieblingen wie Cha-Cha (Mary J Blige) und Hazel (Cameron Britton) aus Staffel 1 zu werden.
Auch David Cross ist absolut verschenkt – so ein genialer Comedy Schauspieler vergeudet mit einer nahezu unnötigen Figur. Und die eigentliche Strippenzieherin Abigaile (Liisa Repo-Martell), Frau von Reginald und eigentlicher Grund für alle Handlungsstränge, darf zwar endlich mal auftauchen, ist als eigentliche Endgegnerin aber nur der Schatten einer kümmerlichen Idee.
Wenn die Fans die Handlung bestimmen könnten
Bezeichnender Weise gibt es ein Vanity Fair Interview, in dem der Cast auf Fan-Theorien für Staffel 4 reagiert, bei dem schnell deutlich wird, das jede einzelne dieser Theorie mehr Potential für eine finale Staffel ergeben würde, als das, was am Ende dabei rausgekommen ist.
Einzig der finale Ausgang der letzten Folge passt in das Gesamtnarrativ der Show und kann ein befriedigender Abschluss für alle Fans sein.
*** Spoiler-Ende ***
Und trotzdem iconic queer!
Doch warum ist »The Umbrella Academy« trotzdem immer noch einmalig queer?
Weil sie eine der ersten mainstream Superheld*innen Erzählungen ist, die offenen Aspekte wie Queerness, Rassismus und Traumata anspricht. Zwar gibt es mittlerweile ein paar queere und_oder BIPoC Superheld*innen, doch meistens wird die Queerness von Figuren nur mit Codes angedeutet und Diversität findet nur in Nebenhandlung oder im Casting von Nebenfiguren eine Rolle.
»The Umbrella Academy« wird oftmals mit der Prime Superheld*innen Serie und Comic-Verfilmung »The Boys« verglichen. Und ja, zwischen den Serien können Ähnlichkeiten gefunden werden. Auch bei »The Boys« gibt es den Versuch sich offen mit Queerness und Rassismus auseinander zu setzten. Gleichzeitig stehen andere Gewaltdarstellungen sowohl auf graphischer als auch auf politischer und psychologischer Ebene im Vordergrund.
Diskriminierung offen thematisieren
Was »The Umbrella Academy« bisher einmalig macht, ist der diverse Schauspieler*innen Cast, der sich konstant durch alle Haupt- und Nebencharaktere zieht. Durch diverse Figuren und diverses Casting, ist die offene Bearbeitung von Diskriminierungserfahrungen als charakterbildend und handlungsleitend erst möglich.
Allisons Narrativ in Staffel 2 und 3 setzt sich mit ihren Erfahrungen als Schwarze Frau und als Teil der Bürger*innenrechtsbewegung im Dallas der 1960er Jahre sowie dessen traumatischen Auswirkungen auseinander.
Das 2020er Coming Out und die Transition von Ellitot Page finden auch Nachklang in seiner Figur, sodass es in Staffel 3 mit Viktor das erste trans* Coming Out einer Superheld*innenfigur in einer weltweiten mainstream Serie gab.
Gerade an den Figuren von Allison und Viktor wird zudem gezeigt, welchen Einfluss die Unterstützung und das Verständnis oder Nichtverständnis der Familie bzw. des sozialen Umfeldes von Diskriminierungserfahrungen haben können. Wie wichtig der gegenseitig Support und die emotionale Kraft einer Community sind. Und gleichzeitig sind beide Figuren bei weitem nicht die einzigen BIPoC bzw. queeren Figuren in der Serie.
Queerness als narrativ stilitisches Element
Queerness ist in »The Umbrella Academy« ein Element, dass sich narrativ, stilistisch und auf Ebene der Figuren von Beginn an durch alle Staffeln zieht. Alle Hauptcharaktere stehen außerhalb der gesellschaftlichen Norm und haben mit ihrer eigenen Außenseiter*innenrolle und draus entstehenden Traumata zu kämpfen. Grundthema ist Familie, von ihr anerkannt oder verstoßen zu werden und immer wieder als Geschwister selbstgewählt zusammenzufinden, um wortwörtlich überleben zu können. Das sind klassische queere Themen.
»The Umbrella Academy« ist auch stilistisch in vielen Punkten purer Camp: von den extravaganten Settings und Kostümen (Klaus trägt fast ausschließlich nur gender bending Fetish Kleidung) bis zu spontanen Tanzszenen und Musical-Elementen. Auch der Trope des queer coded villain wird bewusst aufgegriffen und findet in The Handler (Kate Walsh) die perfekte Umsetztung. Sie ist in allem die Personifikation von queer camp und ein gay fashion idol auf »Hunger Games« Niveau.
Mit Klaus und Viktor gibt es unter den Hauptfiguren queere Charaktere, deren Queerness nie problematisiert wird, aber charakterdefinierend für die Entwicklung ihrer Geschichte ist. Beide haben gay bzw. sapphic Liebesbeziehungen, die nicht nur herzerwärmend, heilend und gleichzeitig tragisch sind, sondern auch wichtige Repräsentationen von queerer Liebe im Superheld*innen Universum darstellen.
Das fast beiläufige Coming Out von Viktor als trans* in Staffel 3 und die Reaktion der einzelnen Familienmitglieder darauf ist bisher nicht nur einmalig für das Genre, sondern auch so herzlich positiv und heilend für alle queeren Fans. »The Umbrella Academy« ist damit wegweisend dafür, wie trans* inklusive Produktionsbedingungen und Narrationen gestaltet werden können.
Fazit
Auch wenn die vierte und letzte Staffel der Superheld*innen-Serie »The Umbrella Academy« weit hinter den Erwartungen und Möglichkeiten zurück bleibt, ist und bleibt sie eine der wichtigsten queeren Serien der letzten Jahre und bahnbrechend innovativ für ein ganzes Genre. Ich bin und bleibe Superfangirl und starte gleich mit einem Re-watch.
THE UMBRELLA ACADEMY
(2019-2024), vier Staffeln, U.S. Netflix
entwichelt von Jeremy Slater, umgesetzt von Steve Blackman
basierend auf den Dark Horse Comics »The Umbrella Academy« von Gerard Way und Gabriel Bá
Darsteller*innen: Elliot Page, Tom Hopper, David Castañeda, Emmy Raver-Lampman, Robert Sheehan, Aidan Gallagher, Colm Feore, Justin H. Min, Ritu Arya u.a
FSK 16
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