Eine Hand hält das Buchcover von Susanna Kaysen »Girl, Interrupted« vor einer Steinwand. Davor steht die Artikelüberschrift: Leben, unterbrochen – Girl, Interrupted. Susanna Kaysen über ihren Klinikaufenthalt und das Leben mit Borderline.
Erzählung

Leben, unterbrochen – Girl, interrupted

Susanna Kaysen über ihren Klinikaufenthalt und das Leben mit Borderline

CN/TW: Suizid, Borderline, mentale Gesundheit, Klinikaufenthalt

Das Gefühl, zu viel auf einmal zu fühlen. Die Welt nicht mehr klar sehen zu können, als ob sich etwas verschoben hätte. Mich selbst nicht mehr zu fühlen und mich gleichzeitig ganz klar zu sehen. Nicht mehr zu wissen, was eigentlichen »wirklich« ist. Nur noch um einen Gedanken zu kreisen und gleichzeitig alle Gedanken auf einmal zu haben. Ein Gefühl von Leere und Ausweglosigkeit. Endstation. Aussteigen oder weitermachen. Dies wird ein schwerer Text, weil sehr nah an mir dran und doch eine ganz andere Welt. Denn in »Girl, Interrupted« nimmt uns Susanna Kaysen mit in eine psychiatrische Klinik, die zwei Jahre ihres Lebens ihre Welt war.

Eine Hand hält das Buchcover von Susanna Kaysen »Girl, Interrupted« vor einer Steinwand. Daneben steht ein Zitat aus dem Buch: For many of us, the hospital was much a refuge as it was a prison. Though we were cut off from the world and all the trouble we enjoyed stirring out there, we were also cut off from the demands and expectations that had driven us crazy. What could be expected of us now that we were stowed away in a loony bin? (S. 94)
Buchcover und Zitat von Susanna Kaysen »Girl, Interrupted«

Eine Erinnerung an eine ver_rückte Welt

Das Jahr 1967: Im Alter von 18 Jahren versucht sich Susanna Kaysen das Leben zu nehmen und wird anschließend in die psychiatrische Klinik McLean Hospital in Massachusetts eingewiesen. Diagnose: Borderline Persönlichkeitsstörung. Die nächsten Monate verbringt sie zwischen Behandlungen, Medikamenten, Diagnosen und dem alltäglichen Wahn_sinn der Klinik. Irgendwo zwischen sich selbst verstehen, mit dem eigenen Leben versuchen ansatzweise klarzukommen und in Gesellschaft von vielen anderen Frauen, die mit ihrem Leben und ihren mentalen Gesundheiten ringen. Zwischen einem System, dass dir auf der einen Seite helfen will, dich aber von der Gesellschaft isoliert, um dich und andere zu schützen. In einer Mischung aus gefangen sein, stecken bleiben und versuchen, irgendwie weiter zu machen.

Susanna Kaysen erzählt ihr Memoire, das 1993 erschien, nicht chronologisch, sondern anhand von einzelnen Anekdoten, Beschreibungen von Situationen und dem Leben mit den anderen Patientinnen. Es beginnt mit ihrer verschobenen Wahrnehmung und dem Gespräch mit dem Psychiater, der sie in die Klink einweist. Zwischendrin finden sich Auszüge aus den Originaldokumenten von ihrem Klinikaufenthalt, welche sie über 20 Jahre später angefordert hat und die Ausgangspunkt für dieses Buch sind. Sie geben einen tiefen Einblick in ihre eigene Akte als auch das System der Klinik.

Zwischen Biographie, Erinnerung und Kritik

»Girl, Interrupted« ist vieles: Autobiographie, Kritik am Kliniksystem und Kritik am Umgang mit Menschen, denen eine psychische Störung diagnostiziert wird. Es ist gleichzeitig eine selten intime Sicht in ein sogenanntes Krankheitsbild als auch die Absurdität, in der sich Psychiatrie befindet. Und vor allem ist es eine humorvolle Wertschätzung aller Menschen, die von der Außenwelt als »verrückt« oder »crazy« abgestempelt werden.

Don’t ask me those questions! Don’t ask me what life means or how we know reality or why we have to suffer so much. Don’t talk about how nothing feels real, how everything is coated with gelatin and shining like oil in the sun. I don’t want to hear about the tiger in the corner or the Angel of Death or the phone calls from John the Baptist. He might give me a call too. But I’m not going to pick up the phone.

Susanna Kaysen »Girl, Interrupted«, S. 125.

Vielen wird »Girl, Interrupted« vor allem durch die Verfilmung aus 1999 von James Mangold mit Winona Ryder und Angelina Jolie, die für ihre Rolle den Oscar als beste Nebendarstellerin bekommen hat, ein Begriff sein. Auch wenn der Film seine eigenen Vorzüge hat, ist er vor allem eine dramatische Überspitzung des Buches, der fiktional an vielen Stellen über die Erlebnisse von Susanna Kaysen hinaus geht.

Auch wenn die Situation in der Klink eindrücklich beschrieben wird, ist dem Film anzumerken, dass mit einer Außensicht auf Patientinnen und ihre eigenen Innenleben geschaut wird – das wirkt an manchen Stellen übergriffig und pathologisierend, was Susanna Kaysen allein dadurch vermeidet, dass sie in ihrer Erzählung bei sich und ihrer eigenen Perspektive auf das Klinikleben bleibt. Es bleibt ihre Sicht, ihre Erfahrung und ihr Umgang mit den Patientinnen und versucht nicht, zu abstrahieren.

Meine ver_rückte Welt und Kaysens Hilfe

Ich habe das Buch das erste Mal gelesen, als ich selbst nach einem Suizidversuch in Therapie war und mit Borderline diagnostiziert wurde. Meine Welt war genau so ver_rückt und verschoben wie es Susanna Kaysen beschreibt – auch ca. 50 Jahre später in amulanter Behandlung in der Großstadt. Mir hat das Buch unglaublich viel Kraft gegeben, mich mit mir selbst und meiner Situation weiter auseinander zu setzten und mir Worte zu geben für die absurde Gegenwart in der ich mich befand. Worte gegeben für Gefühle und Situationen, die ich vorher nicht benennen und nicht begreifen konnte. Und Kraft, mich mich meinen Herausforderungen zu stellen. Und Dankbarkeit, dass ich nicht in den 1960er Jahren lebe.

Heute, ein paar Jahre später, hilft es mir immer noch, meine Situation, meine Geschichte, meine Vergangenheit zu bearbeiten und zu bestehen. Es schmerzt, in die Erinnerung hineinzugehen. Es schmerzt auch diesen Text zu schreiben. Doch gleichzeitig gibt es so viel Kraft, weil ein offener Umgang mit meinen Erlebnissen ist auch ein offener Umgang mit und für mich selbst. Es ist Akzeptanz mir selbst gegenüber und meiner eigenen Geschichte, die immer ein Teil von mir ist und mich begleitet, ob ich es will oder nicht.

Denn Offenheit und Akzeptanz meiner eigenen psychischen Disposition, meiner eigenen Ver_rücktheit gegenüber, hilft mir, mich selbst anzunehmen wie ich bin. Hilft mir, mich selbst etwas mehr wertzuschätzen für das, was ich bin und das, was ich sein kann. Auch wenn dies immer noch schwer fällt und jeden Tag eine Herausforderung ist.

Und es hilft diesen Text zu schrieben, dieses Buch vorzustellen, das einen wichtigen und tiefen Platz in mir hat. Vielleicht geht es ja anderen Menschen genau so – oder so ähnlich. Vielleicht kann dieses Buch auch anderen mit und in einer verrückten Welt helfen.

Fazit

Susanna Kaysen gibt uns mit »Girl, Interrupted« einen seltenen und intimen Einblick in ihren Klinikaufenthalt und ihr Leben mit Borderline. Es ist eine Leseempfehlung für Menschen, die mit mentaler Gesundheit ringen – doch mit einem großen ACHTUNG was alle Themen des Buches und Trigger angeht! Bitte passt auf euch auf!

Und es ist natürlich auch eine Empfehlung für alle Menschen, denen diese Themen fremd sind, um sich aus Betroffenenperspektive damit auseinander zu setzten.

Vor der Lektüre

TW: Suizid, Borderline, mentale Gesundheit, Klinkaufenthalt

Susanna Kaysens »Girl, Interrupted« ist bei Virago erschienen.

In der deutschen Übersetzung von Sabine Schulte gibt es »Durchgeknallt« bei btb.

Anmerkung: Ich habe die deutsche Übersetzung nicht gelesen und kann dazu nichts sagen, finde aber den Titel ungemein schlecht und unsensibel dem Thema gegenüber gewählt!


Eine Hand hält die Buchcover der zwei Teile von Lize Meddings »The Sad Ghost Club« vor einer Steinwand. Davor steht die Überschrift des Artikels: Wenn Trauer, Einsamkeit und Ängste einen Raum finden. Lize Meddings schafft mit Comics Empowerment und Aufklärung.

Mehr zum Thema mentale Gesundheit gibt es hier: »Wenn Trauer, Einsamkeit und Ängste einen Raum finden«

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